Eigentlich wollte ich in der Buchhandlung nur eine Karte kaufen. Als an der Kasse aber eine kleine Reclam-Ausgabe von „Peterchens Mondfahrt“ auslag, gab ich einem spontanen Impuls nach. Als Kind mochte ich das Märchen von Gerdt von Bassewitz über den Maikäfer Herr Sumsemann und die beiden Kinder Anneliese und Peterchen, die zum Mond fliegen, um dem Maikäfer das sechste Beinchen zurückzuholen.
Damals hatte ich eine stark gekürzte – aber dafür reich illustrierte – Ausgabe. Das kleine Reclam-Heftchen kommt dagegen ohne Illustrationen daher. Das ist angesichts des Formats und des geringen Preises von 5 € durchaus nachvollziehbar, aber dennoch schade: Das Kinderbuch ist so bildgewaltig, lebt von ausgedehnten Beschreibungen über opulente, ungewöhnliche Figuren und Schlaraffenland-artige Landschaften. Dies alles auch visuell abzubilden, wäre ein Fest fürs Auge.
Auf Handlungsebene passiert dagegen erstaunlich wenig. In meiner gekürzten Version aus der Kindheit habe ich also inhaltlich nichts verpasst. Nur die Beschreibungen von Figuren und Landschaften fielen damals reduzierter aus – was dort gestrichen wurde, haben die Illustrationen vermittelt.
Als Erwachsene war ich gespannt, ob mir das Märchen heute noch gefallen oder mich ernüchtern würde. Die Erfahrung liegt nun irgendwo in der Mitte. Ich hatte trotz der ausschweifenden Beschreibungen – insbesondere der Naturgeister – eine angenehme und kurzweilige Lesezeit. Ich mochte, wie einige Figuren in Versen sprachen und das ein oder andere Lied sangen. Der Maikäfer Herr Sumsemann sowie die ganzen Beschreibungen und Momentaufnahme aus Sicht kleiner Insekten und Tiere haben mich gedanklich weit aus meiner Realität davongetragen in eine friedliche Natur, in der ich gern länger verweilt hätte.
Nichtsdestotrotz gibt Punkte, die negativ auffallen. Die größte Kritik gilt natürlich dem Titel selbst. Schon als Kind habe ich mich gefragt, wieso das Märchen „PETERCHENS Mondfahrt“ heißt, schließlich fliegt nicht nur Peter zum Mond, sondern auch seine Schwester Anneliese und der Maikäfer Herr Sumsemann. Peterchens Rolle im Märchen ist nicht größer oder von höherer Relevanz als die der anderen. Oft ist es sogar Anneliese, die dafür sorgt, dass brenzlige Situationen gut ausgehen. Außerdem hat die Reise zum Mond nichts mit einer speziellen Mission für Peter zu tun, sondern ist in erster Linie Herrn Sumsemanns Geschichte.
Des Weiteren merkt man dem Märchen seine erzieherischen Ziele an. Sumsemann braucht ausnahmslos brave, artige Kinder, um zum Mond fliegen zu können und immer wieder betont Gerdt von Bassewitz, wie gut, lieb und fehlerfrei die Geschwister sind. Die braven, vorbildlichen Kinder werden dann natürlich nicht nur für diese einmalige Reise auserwählt, sondern wiederholt für ihren Mut und ihre Herzensgüte belohnt. So wird ihnen auch die Ehre zuteil, den Weihnachtsmann und das Christkind zu sehen. Die Botschaft des Märchens ist klar.
Von Bassewitz macht auch sehr deutlich, welche Figuren wir belächeln dürfen, indem er sie beispielweise mehrfach als „dick“ oder „dumm“ bezeichnet. Das Kindermädchen von Anneliese und Peterchen erhält gleich beide Attribute und wird in diesem Zuge so porträtiert, dass sie nichts versteht und den Kindern quasi unterlegen ist. Solche Zuschreibungen bereiten Bauchschmerzen. Darüber hinaus gibt der Autor seinen Leser*innen keine Chance, selbst Urteile über Figuren zu fällen, sich eigene Meinungen über sie zu bilden. Klar, Kindern hilft eine klare Einteilung und eine Richtung, um Figuren einschätzen zu können – in „Peterchens Mondfahrt“ beraubt man sie aber komplett ihrer Fähigkeit, über Charaktere zu lernen, Einschätzungen vorzunehmen und zusammen mit den Eltern oder anderen Kindern über die Figuren nachzudenken.
Neben all dem kommen noch kleinere inhaltliche und Logikfehler hinzu. Beispielsweise haben die Sternenkinder zuerst goldene Locken; ein paar Seiten weiter werden sie alle als „silberhaarig“ beschrieben und weitere Seiten später haben sie plötzlich blonde Locken. Ja, was denn nun?
Fazit:
„Peterchens Mondfahrt“ bietet mit seinen ausschweifenden Bildern und den ungewöhnlichen Figuren eine ideale Basis für Kopfkino, Illustrationen, Verfilmungen und Hörspiele und ist eine nette, unterhaltsame Geschichte für einen gemütlichen Abend. Die stark wertenden Figurenzuschreibungen und das offensichtliche erzieherische Motiv braver, gehorsamer Kinder trüben jedoch den Lesegenuss.
Gerdt von Bassewitz: „Peterchens Mondfahrt“, Reclam 2022, ISBN: 978-3-15-014280-6
Das mochte ich als Kind auch sehr, aber ich kann mich kaum daran erinnern. Hab es mehrfach aus der Bücherei ausgeliehen.
Solche Kindheitsbücher hatte ich auch. Vielleicht sollten wir die alle mal wieder neu entdecken :)