Vor zwei Wochen begannen Miss Booleana, voidpointer und ich mit unserer gemeinsamen Lektüre von Ted Chiangs Kurzgeschichtensammlung „Stories of Your Life and Others“. Inzwischen sind wir zu viert: Sabine vom Blog Binge Reading & More hat sich uns angeschlossen.

Die ersten drei der acht Geschichten liegen hinter uns. Ihnen allen gemein ist, dass sie das Streben nach mehr thematisieren – und das ganz vielfältig interpretieren: Ihre Charaktere streben nach mehr Wissen, neuer Erkenntnis, neuen Möglichkeiten und buchstäblich nach neuen Horizonten.

Gleich in der ersten Geschichte – „Tower of Babylon“ – steht ein wahrlich größenwahnsinniges Projekt im Mittelpunkt: Der Bau eines scheinbar endlosen Turmes, der den Weg zum Reich Gottes bereiten soll. Eine Story, die uns alle überzeugen konnte und immer wieder ins Staunen versetzte. Allein die Ausmaße dieses Turms brachten uns fast an die Grenzen unserer Vorstellungskraft.

Dieses opulente Bauwerk stellt uns Leser dabei auch vor religiöse und moralische Fragestellungen, denn auch wenn der Turmbau aus Verehrung eines Gottes entstand, ist er doch ein Sinnbild für die Maßlosigkeit der Menschheit. Höher, schneller, weiter – egal, um welchen Preis.
Mit seiner ersten Geschichte hat Ted Chiang also bereits ordentlich Eindruck hinterlassen und die Messlatte für alles Folgende entsprechend hochgelegt.

Tja, und dann legt er uns „Understand“ vor und haut uns damit regelrecht um! Die Story umfasst keine 50 Seiten und fühlte sich doch an wie ein kolossaler Roman.

Noch heute, eine Woche nach der Lektüre, kann ich „Understand“ eigentlich kaum in Worte fassen – zumindest nicht, was diese Geschichte in mir ausgelöst hat. Es war faszinierend, zugleich verstörend und ich habe wohl noch nie etwas Vergleichbares gelesen. Spätestens bei dieser Story war mir klar, was für ein Genie und großartiger Schriftsteller Ted Chiang ist.

Chiang entführt uns in „Understand“ in eine (nicht allzu ferne?) Zukunft, in der es der Wissenschaft gelungen ist, Nervenschäden der Menschen durch eine Hormontherapie wiederherzustellen. Ein Nebeneffekt der Behandlung: Das Hormon regeneriert den menschlichen Körper nicht nur, sondern erweitert die mentalen Fähigkeiten. Ihr kennt sicher alle die These, dass der Mensch nur einen Bruchteil seiner Hirnkapazitäten nutzt? „Understand“ zeigt auf, was uns erwarten könnte, wenn wir nun tatsächlich 100 Prozent unseres Gehirns nutzen könnten. Anfangs klingt diese Aussicht äußerst verlockend: Eine neue Sprache oder ein Instrument lernen? Klappt quasi über Nacht. Neues Wissen und neue Fähigkeiten aneignen? Schaffst du mühelos nebenbei. Lange To-Do-Listen? Gehören der Vergangenheit an, da du mehrere geistig anspruchsvolle Aufgaben im selben Augenblick erledigen kannst.

Doch mit jedem weiteren Tag zeigt sich, dass dieses Leben alles andere als erstrebenswert ist. Mit jedem mentalen Fortschritt entfernt sich Protagonist Leon mehr von dem, was uns Menschen ausmacht, und er erinnerte mich irgendwann viel mehr an einen Computer, eine Künstliche Intelligenz, anstatt an ein menschliches Wesen. Verdammt spooky …
Mit wissenschaftlichem Fortschritt konfrontiert uns Chiang anschließend auch in der dritten Geschichte, „Divison by Zero“. Chiang hat sich für diese Geschichte eine interessante Erzählstruktur überlegt. Wir begleiten das Paar Renee und Carl durch ihre größte Krise, die wir abwechselnd aus ihrer Perspektive erleben. Vor jeden Abschnitt setzt Chiang mathematische Theoreme und Axiome, die auf eine ziemlich abstrakte Art auch Carls und Renees Beziehung beschreiben. Doch die nüchterne, sachliche, von Logik geprägte Mathematik ist es schließlich auch, welche die Mathematikerin Renee in eine Sinn- und schließlich ihre Beziehung zu Carl in eine Ehekrise stürzt. Denn Renee hat ein Theorem aufgestellt, das die Mathematik und ihre eigene Wahrnehmung, ihr Verständnis von der Welt auf den Kopf stellt. Für Renee scheint es fortan unmöglich, in irgendetwas Sinn oder Logik zu erkennen – und dabei stößt sie Ehemann Carl unbewusst immer mehr von sich weg.
Was sich nach einem äußerst cleveren Konzept und einer komplexen Story anhört, hat mich im Endergebnis aber leider doch enttäuscht zurückgelassen. Das lag vor allem daran, dass ich keinen Zugang zu den Charakteren fand. Zwar konnte ich mich in Carl noch hineinversetzen und mich emotional auf sein Erleben einlassen, doch ließ mich Renee kalt. Das ist natürlich in ihrer eigenen sachlichen Art begründet, aber selbst in ihrer persönlichen Krise fiel es mir schwer, mit ihr mitzufühlen oder mich in sie hineinzuversetzen. Renee blieb mir zu blass, wie jemand, den ich noch nie gesehen habe, aber über deren private Probleme mir ein Bekannter erzählt. Und so sehr ich auch versuchte, die Welt wie Renee zu sehen, blieb die Distanz zwischen uns doch unüberbrückbar.
Nach diesem vielseitigen und immer aufs Neue überraschenden Einstieg in Ted Chiangs Welt bin ich nun umso neugieriger auf alles vor mir liegende. Insbesondere die nächste Geschichte erwarte ich mit großer Spannung, denn bei dieser handelt es sich um die Vorlage zum Film „Arrival“.

Ted Chiang: „Stories of Your Life and Others“, Picador 2014, ISBN: 9781447281986


Alle bisherigen Beiträge zum Leseprojekt:

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