Nach der titelgebenden Geschichte „Story of Your Life“ hielt Ted Chiang für uns noch vier weitere Texte bereit, die inhaltlich und stilistisch eine gewaltige Bandbreite aufweisen, mich aber nicht leider nicht in dem Maße überzeugen konnten wie die vier ersten Erzählungen in „Stories of Your Life and Others“. Das mag zum einen daran liegen, dass Chiang mit seinen ersten Texten – und vor allem mit der Vorlage für „Arrival“ – derart großartige Texte präsentiert hat, dass die Erwartungshaltung an alles Folgende entsprechend hoch war. Zum anderen entsprachen die letzten Geschichten nicht gänzlich dem, was ich mir von der Umsetzung der aufgegriffenen Themen versprochen habe.

Nach dem Meisterwerk „Story of Your Life“ schloss sich das Religion und Wissenschaft vereinende „Seventy-Two Letters“ an. Greift Ted Chiang in dieser Geschichte zunächst die jüdische Golem-Legende auf, spinnt er anschließend den Gedanken weiter, was wäre, wenn sich Golems derart weiterentwickeln ließen, dass sie eines Tages nicht nur als effiziente Arbeitskräfte eingesetzt werden könnten, sondern auch in der Lage wären, sich selbst zu reproduzieren.

Dabei streift „Seventy-Two Letters“ so ziemlich alle Fragestellungen und Konsequenzen, die sich daraus ergeben könnten. Es werden betriebs- und volkswirtschaftliche Umwälzungen angesprochen, ethische und moralische Grenzen ausgelotet, gesellschaftliche, biologische und interpersonelle Veränderungen veranschaulicht. So erfahren wir vor allem von Verlusten: Verlust der Macht, Verlust der Arbeit, Verlust der Intimität. Fortpflanzung, Sexualität, Industrie und Alltag würden neu geprägt werden und es bleibt die Frage: Wie weit dürfen Forschung und Entwicklung gehen – und zu welchem Preis?

Alles in allem hat Chiang hier spannende Fragen aufgeworfen und die Kombination aus Religion und Wissenschaft ist ihm durchaus gut gelungen. Dennoch konnte mich „Seventy-Two Letters“ nicht begeistern: Der Erzählstil war mir zu langatmig; die für mich wirklich spannenden Punkte wurden für meinen Geschmack zu kurz angerissen, wohingegen anderes – insbesondere die abstrakteren, weniger alltäglichen und nicht zwingend handlungsleitenden Aspekte – zu ausschweifend geschildert wurden. Miss Booleana fand „Seventy-Two Letters“ hingegen genial. Wie sehr die Story fesselt und überzeugt, hängt daher nicht zuletzt davon ab, was man erwartet, was man in ihr sucht und welche inhaltlichen Schwerpunkte den jeweiligen Leser stärker interessieren.

Die Folgen technologischen Fortschritts standen auch im Fokus des sehr kurzen Textes „The Evolution of Human Science“. Ursprünglich verfasst für ein wissenschaftliches Journal, das dazu aufrief, über die Zukunft der Forschung zu schreiben, hat Chiang für diese Erzählung das Format eines Artikels gewählt. Ein fiktiver Redakteur eines Journals berichtet, wie sich die Forschung durch sogenannte „Metahumans“ (Meta-Menschen) verändert hat. Unter den Metahumans werden Menschen verstanden, die geistig so stark weiterentwickelt sind, dass sie sogar auf eine ganz eigene Art kommunizieren, ihre eigene Sprache haben. Ein Alltag zwischen einem Metahuman und einem „normalen“ Menschen ist kaum möglich, da sich beide geistig auf derart unterschiedlichen Ebenen befinden, dass der normale Mensch immer überfordert und der Meta-Mensch unterfordert wäre. In Folge dessen haben auch herkömmliche Wissenschaftler ihre Relevanz eingebüßt: Forschung wird vor allem durch Metahumans betrieben und normale Wissenschaftler tun mittlerweile nichts anderes mehr, als die Studien der Metahumans in eine für Nicht-Metas verständliche Sprache zu übersetzen. Grundlagenforschung ist damit zu einem Privileg der Metahumans geworden.

Ein sehr spannendes Gedankenexperiment, das vor dem Hintergrund von KI plötzlich erstaunliche Aktualität erhält und gar nicht mehr so sehr nach Science Fiction klingt. Aufgrund des Artikel-Formats war „The Evolution of Human Science“ allerdings extrem kurz, sodass ich angefixt und zugleich auch irritiert zurückblieb. Ich habe mich irgendwie „fallen gelassen“ gefühlt, denn das Thema hat viel Potenzial. Wenn ich an Chiangs Kurzgeschichte „Understand“ zurückdenke, wären zwischen beiden Texten auch interessante Parallelen und Verknüpfungen möglich gewesen, die vermutlich sogar eine Menge Stoff für einen dystopischen Roman ergeben hätten.

Nach dieser wissenschaftlichen Vision holt uns Ted Chiang zurück in eine erneut religiös geprägte Welt. „Hell is the Absence of God“ scheint sich zunächst in der uns vertrauten Welt zu bewegen. Doch schnell zeigt sich: Erscheinungen von Engeln, Himmel und Hölle sind real und vollkommen normal. Die Charaktere sind Suchende, machen Fehler, voller Zweifel und haben jeweils ihre eigene Last zu tragen. Nicht ganz unschuldig an ihren Nöten und ihren offenen Fragen ist Gott, der seine Engel regelmäßig die Erde heimsuchen lässt, wobei diese Besuche für manche Menschen zu einem Segen werden, andere jedoch um ihr Leben oder das von geliebten Menschen beraubt. Es ist ein wenig, als wären alle Menschen nur Figuren auf einem überdimensionalen „Mensch-Ärgere-Dich-Nicht“-Spielbrett – und je nach Laune kickt Gott dich entweder ins Aus oder lässt dich im Leben weiterkommen.

Mir persönlich war das aber zu wenig. „Hell is the Absence of God“ hielt für mich nichts wirklich Neues bereit und war mir an vielen Punkten zu vorhersehbar. Letztlich habe ich aus dieser Geschichte absolut gar nichts für mich mitgenommen, auch wenn ich Ansatz des willkürlichen Gottes, der kein Erbarmen gegenüber den Menschen zeigt, ganz erfrischend fand.

Wirklich abgeholt hat mich von den letzten vier Geschichten nur „Liking What You See: A Documentary“, die auch den Abschluss der Kurzgeschichtensammlung bildet. Ted Chiang hat – nach dem Artikel in „The Evolution of Human Science“ – hier erneut zu einer anderen Erzählform gegriffen, nämlich einer fiktiven Dokumentation. In einer Zukunft, in der die Technologie die Realität so abbildet, wie wir sie uns wünschen, kommen verschiedene Personen zu Wort, die über die Vorteile und Nachteile einer sogenannten Calliagnosia sprechen. Unter Calliagnosia wird ein Verfahren verstanden, dass die visuelle Wahrnehmung beeinflusst: Wer Calliagnosia nutzt, assoziiert sich und andere Menschen nicht mit optischen Attributen wie „schön“, „sexy“ oder „unattraktiv“. Das Verfahren soll Lookism verhindern und Menschen, insbesondere Kinder und Jugendliche, davor bewahren, von Schönheitsidealen geprägt und gelenkt zu werden. Das Versprechen: Keine Diskriminierung und kein Sexismus mehr.

Was für den ein oder anderen positiv klingen mag, ist aber natürlich alles andere als unbedenklich. Denn es ist wie mit der Bewahrpädagogik: Wird hier wirklich zum Wohle des (heranwachsenden) Menschen gehandelt oder beraubt man hier die Menschen nicht um ihre Mündigkeit und um wichtige Lernprozesse? Das Ausblenden kritischer Aspekte im Leben ist ein einfacher Weg, aber sollten wir uns stattdessen nicht darum bemühen, Kindern die richtigen Werte zu vermitteln, auch wenn das ein langwieriger und komplexerer Prozess ist?

Fazit:

Auch wenn nicht jede Erzählung in „Stories of Your Life and Others“ jeden Leser gleichermaßen begeistern wird, ist die Kurzgeschichtensammlung doch ein Meisterwerk der Science Fiction. Ted Chiang wagt Gedankenexperimente, die auf den ersten Blick weit weg von unserer Lebenswelt erscheinen mögen, aber doch näher an unserer Realität sind als erwartet. Die Geschichten sind klug geschrieben und erzählt, urteilen nicht und lassen Raum zur eigenen Interpretation und gedanklichen Fortsetzung des Geschilderten. Wie kaum ein anderer schafft es Chiang dabei, auf engstem Raum komplexe Geschichten zu erzählen und visionäre Szenarien zu erschaffen, die stets Stoff für einen abendfüllen Film bergen. „Stories of Your Life and Others“ hat daher durchaus das Potenzial, eines Tages zu einem solchen Klassiker der Science Fiction zu werden wie die Werke Jules Vernes oder H. G. Wells‘.


Alle bisherigen Beiträge zum Leseprojekt:

Alle Eindrücke und Gespräche zu „Stories of Your Life and Others“ könnt ihr auf Twitter via #StoriesofChiang nachlesen.