Inhaltswarnungen / Content Notes
Die Kurzgeschichten enthalten:
- diverse Formen von Gewalt (u.a. Kindesmissbrauch, (Kindes-)Mord, (Kindes-)Entführung, Suizid),
- Krebs,
- psychische Erkrankung,
- prä- und postpartale Depression
Sobald die Tage kürzer, kälter und wolkenverhangener werden, bekomme auch ich Lust auf düstere Geschichten. Passenderweise wurde ich zu genau dieser Zeit durch Antonie (@Lesewahn) auf die Bücher von Ben Kohler aufmerksam. Wenige Tage darauf lag auch schon sein Kurzgeschichtenband „Angst“ in meinem Briefkasten.
In dem rund 100 Seiten schmalen und damit viel zu schnell gelesenen Buch widmet sich Ben Kohler in fünf Geschichten verschiedenen menschlichen Ängsten – realen wie übersinnlichen. Ein Thema, das sich dabei durch den gesamten Band zieht: Verlust. Wiederholt geht es um den Verlust der eigenen (psychischen) Gesundheit und um den (selbst verschuldeten) Verlust geliebter Menschen. Dabei greift Ben Kohler Szenarien und Elemente auf, die uns alle in irgendeiner Form schon einmal begegnet sind – sowohl in der Popkultur als auch in den Nachrichten. Das macht Ben Kohlers Psychohorror vertraut und erschreckend greifbar. Interessant fand ich in diesem Zusammenhang auch die Erläuterungen des Autors zur Inspiration der Geschichten. Sie zeigen, dass es manchmal nur kleiner Augenblicke bedarf, um das Kopfkino auf Hochtouren zu bringen.
Ein Beispiel dafür ist direkt die erste Kurzgeschichte, „Polaroid“. Vermutlich haben wir alle schon einmal ein Geräusch gehört, dessen Ursprung wir nicht ausmachen konnte. Oder waren von einem winzigen, aber wiederkehrenden Geräusch genervt. So geht es auch Tom Leander, dem Protagonisten der Geschichte. Eines Nachts hört er plötzlich ein Tropfen, das weder einem der Wasserhähne noch einer anderen Stelle in seiner Wohnung entstammt. Egal, wie intensiv Tom sucht – er findet keine Ursache für das Tropfen. Stattdessen wird das Geräusch immer lauter, aufdringlicher, näher, quälender. „Polaroid“ bedarf für seine Wirkung auch gar keiner spektakulären Effekte. Die unterschwellige, aber zunehmende Bedrohung ist beklemmend genug und sorgt für wachsende Spannung. Dazu eine Prise Übernatürliches, die sich aber nie aufdrängt und mich an den Stil Stephen Kings oder an die Stories von „X-Factor: Das Unfassbare“ erinnerte.
Regelrechtes Albtraumpotenzial hatte für mich die zweite Geschichte, „Sarah“, in der eine Mutter ihre kleine Tochter plötzlich nicht mehr wiedererkennt und die gemeinsame Autofahrt zu einem buchstäblich eiskalten Grauen wird. Kinder gehören neben Puppen und Clowns zu den wohl gruseligsten Figuren des Horrorgenres. „Sarah“ ist ein Paradebeispiel dafür, warum das so ist, und dürfte insbesondere jenen gefallen, die japanischen Horror wie „Ju-on“/„The Grudge“ oder „Ringu“/„The Ring“ lieben.
Eine Mutter und ihre Tochter stehen auch im Mittelpunkt der Geschichte „Todesangst“. Im Gegensatz zu den beiden ersten Kurzgeschichten verzichtet Ben Kohler hier aber auf jegliche übernatürlichen Elemente. Stattdessen verarbeitet er eine Angst, die wohl alle Eltern kennen: die Furcht vor dem Verschwinden des eigenen Kindes. Ergänzt wird das um die hochproblematische Vorgeschichte von Mutter und Tochter. So entsteht eine Kurzgeschichte, die gleich auf mehreren Ebenen dramatisch ist.
In der vierten Geschichte, „Versteckt“, findet sich ein Mann nach einer durchzechten Nacht eingesperrt in einem Keller wieder. Mehr möchte und kann ich an dieser Stelle nicht verraten, ohne die Wirkung der Story zu ruinieren. Wer jedoch Splatter oder ähnliches erwartet: falsch gedacht. „Versteckt“ ist weder blutig noch übersinnlich.
„Dämonen“, die letzte Kurzgeschichte, führt uns zunächst in eine familiäre Idylle. Doch als der Vater – ein erfolgreicher Autor – Schreibblockaden entwickelt, krank wirkt und sich den ganzen Tag in sein Büro zurückzieht, wird das zur Bedrohung für die ganze Familie. Die Veränderung des Vaters vollzieht sich schleichend, was das Szenario glaubhafter macht und mich besser mit der Familie mitfühlen ließ. Allerdings hatte „Dämonen“ dadurch für mich auch einige Längen, die meine Spannung zwischenzeitlich wiederholt dämpften.
Somit war „Dämonen“ für mich kein würdiger Abschluss dieses großartigen Kurzgeschichtenbandes. Die ersten Stories haben mich jedoch umso mehr begeistert. Ich mag Ben Kohlers Stil, der schnörkellos, direkt, aber trotzdem empathisch ist, nie zu viel und nie zu wenig verrät. Ich will auf jeden Fall mehr davon – zum Glück ist Ben Kohlers neuer Roman, „Das Dorf“, bereits vorbestellt.
Fazit:
Richtig guten Horror ohne blutige Effekthascherei zu schaffen, gelingt nicht vielen. Auch Kurzgeschichten sind eine Kunst, die nicht alle Autor*innen beherrschen. Ben Kohler kann beides und hat mit „Angst“ beklemmende Kurzgeschichten veröffentlicht, wie ich sie lange nicht mehr gelesen habe. Für mich eine der wenigen Autor*innen-Entdeckungen der letzten Jahre, die ich im Blick behalten werde.
Ben Kohler: „Angst: Kurzgeschichtenband“, erschienen im Selbstverlag 2021, ISBN: 979-8510495478
Geplauder