Das Team Dickens ist zurück aus England, den armen Oliver endlich in guten Händen wissend.
Seit meinem letzten Zwischenbericht ist viel vorgefallen. Wie schon zuvor der ehrenwerte Mr Brownlow und seine Haushälterin Mrs Bedwin nahmen sich erneut gute Seelen des armen Oliver an. Dieses Mal sollte das Glück für den Waisenjungen andauern, wenngleich es weiterhin genug Menschen gab, die alles daransetzten, Oliver zu schädigen und für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen. Dabei trafen wir auf viele alte Bekannte wie Mr Bumble, Noah Claypole und natürlich Nancy, Sikes und Fagin. Es folgten Intrigen, Mord, aber auch Romantik in Form des jungen Paares Rose und Harry. Und natürlich siegte am Ende die Gerechtigkeit. Die Bösen erhielten ihre Strafe, die Guten wurden zu einer großen, glücklichen Familie.
So wurde „Oliver Twist“ verstärkt zu einem Buch, das sich in keine Genre-Schublade stecken lässt: gesellschaftskritischer Roman, Krimi, Melodrama. Was Charles Dickens‘ Buch aber keineswegs ist, obwohl es gern so betitelt wird: ein Kinderbuch. Es enthält eindeutig zu viel, zu brutale und zu explizit geschilderte Gewalt, angstschürende Elemente und Themen bzw. Schilderungen, die nicht für ein junges Publikum geeignet sind. Dazu zählen neben der antisemitischen Darstellung Fagins auch der entsetzliche Umgang mit Frauen.
Frauen werden – wie in so vielen älteren Büchern – in den gängigen Stereotypen dargestellt: Mutter, Hure, Dienerin. Sie sind diejenigen, die für die Fehler der Männer büßen müssen, haben sich unterzuordnen, zu gehorchen und sich abzurackern, während ihre Gatten sich dem leiblichen Wohl hingeben; natürlich ohne zu widersprechen und ohne eigene Bedürfnisse äußern, geschweige denn befriedigen zu dürfen. Das Fass zum Überlaufen bringen die Männer, die sich dafür auch noch rühmen und stolz darauf sind, ihre Frauen so zu schikanieren. Beim Lesen kochte da schnell die Wut hoch und ich wäre am liebsten ins Buch gestiegen, um Nancy zu helfen, Rose die Augen zu öffnen und Noah und Mr Bumble kräftig zu schütteln.
„Oliver Twist“ hielt für uns rückblickend sehr viel bereit und entwickelte sich in Richtungen, die ich anfangs nicht einmal geahnt hätte. Dickens hat in seinem Roman viel verarbeitet, der dadurch für unterschiedlichste Leser*innen gleichermaßen attraktiv wird.
Allerdings kommt man um Kritik nicht umhin. Nicht nur die Darstellung von Juden ist etwas, das mir beim Lesen bitter aufstieß, sondern auch bestimmte Kniffe, derer sich Dickens bediente und die in der zweiten Hälfte des Romans umso deutlicher hervortreten. Es gibt Muster, die allzu häufig und offensichtlich eingesetzt wurden. Anfangs hatten diese Wiederholungen durchaus Charme, wurden aber im weiteren Verlauf zu vorhersehbar und wirkten wie eine für Dickens‘ leichte Lösung, um die Handlung am Laufen zu halten.
Hinzu kommen zu viele und zu extreme Zufälle. Klar, London war damals nicht so groß wie heute. Doch dass alle, die Oliver jemals Böses wollten, am Ende im selben Netzwerk landen und Olivers Helfer, die einander nie begegnet sind, durch Ereignisse der Vergangenheit miteinander verbunden sind, war mir zu weit hergeholt und unglaubwürdig.
Auch anderes war mir ein wenig „too much“. So störte mich die ständige Geheimniskrämerei. Immer wieder streute Dickens Puzzleteile ein, die mich anfangs neugierig machten, aber in manchen Fällen übertrieben aufgebauscht wurden. So verwies Dickens ständig auf einen schrecklichen Makel, der Rose anhaftet und wegen dessen Harry sie nicht lieben und nicht heiraten soll. Worum es sich bei diesem Makel handelt, wird jedoch über hunderte von Seiten verschwiegen und erst beim großen Finale gelüftet.
Die teils platten Muster, unnatürlichen Zufälle und künstlich in die Länge gezogene Geheimniskrämerei hinterließen bei mir den Eindruck, als wüsste Dickens zum Zeitpunkt des Schreibens selbst noch nicht, wohin genau sich alles entwickeln soll. Blendet man diese Punkte aus, bleibt jedoch ein wichtiger Roman, der ein gelungener Spiegel seiner Zeit und zugleich eine interessante Mischung aus Drama und Krimi ist.
Fazit:
„Oliver Twist“ ist zurecht ein bedeutender Klassiker, der direkt und schonungslos ist. Die achso-hochwürdigen, bigotten Kreise werden demaskiert, Missstände offen angeprangert und zugleich eine rasante, spannungsgeladene Geschichte erzählt. Lediglich in der zweiten Hälfte weist Dickens‘ Roman einige stilistische Schwachstellen auf. Nicht unproblematisch ist zudem die Darstellung von Juden und Frauen.
Charles Dickens: „Oliver Twist“, mit Illustrationen von George Cruikshank, aus dem Englischen übersetzt von Gustav Meyrink, dtv 2016, ISBN: 978-3-423-13613-7
Weitere Beiträge rund um das gemeinsame Lesen von „Oliver Twist“:
- Ankündigung und Rückblick auf die ersten Kapitel bei Phantásienreisen
- Zwischenbericht über die erste Hälfte des Romans bei Phantásienreisen
- Rückblick auf die Kapitel 1 bis 9 bei Buchstapelweise
- Rückblick auf die Kapitel 10 bis 18 bei Buchstapelweise
- Rückblick auf die Kapitel 19 bis 29 bei Buchstapelweise
- Rückblick auf die Kapitel 30 bis 38 bei Buchstapelweise
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