Lange war es geplant, nun ist es endlich in die Tat umgesetzt: Team Tolstoi liest wieder gemeinsam einen Klassiker – und wird Team Dickens! Gemeinsam mit den beiden Utes (@papercuts1 von Buchstapelweise und @_Liedie) widme ich mich in diesem Winter der Geschichte um den Waisenjungen Oliver Twist.

Dickens habe ich bisher immer mit Weihnachten verbunden und so habe ich bisher auch lediglich seine diversen Weihnachts-/ Neujahrserzählungen gelesen. Seine großen Romane „Oliver Twist“, „Great Expectations“ und „A Tale of Two Cities“ standen hingegen immer auf der Book-Bucket-List. Irgendwann kam der Zeitpunkt, diese Bildungslücken langsam zu füllen. Da die beiden Utes „Oliver Twist“ ebenfalls noch nicht gelesen hatten, bot sich die gemeinsame Lektüre an. Seit einer Woche könnt ihr also unsere Reise ins England des 19. Jahrhunderts auf Twitter unter  verfolgen.

Während Ute und Ute schon Kapitel 9 hinter sich gelassen haben und mit Oliver in London eingetroffen sind, befinde ich mich aktuell in Kapitel 5, wo der neunjährige Oliver in einer englischen Kleinstadt seinen ersten Job bei einem Sargtischler antritt und damit das Elend des Arbeitshauses hinter sich lässt.

Bereits die ersten Kapitel zeigen offensichtlich, warum Charles Dickens mit der Veröffentlichung von „Oliver Twist“ für so viel Furore sorgte. Ungeschönt und auf zum Teil sehr bissige Art schildert er, wie vermeintliche Institutionen der Barmherzigkeit mit Waisenkindern umgehen. Jede noch so magere Mahlzeit für die Jungen (bisher ist tatsächlich nur von Jungen die Rede) ist in den Augen der Verantwortlichen eine zu viel. „Erdreistet“ sich ein Kind, über Hunger zu klagen oder gar eine zweite Portion zu erbeten, wird es weggesperrt, vorgeführt und geschlagen. Es ist kein Leben, was den Kindern geboten wird, sondern lediglich ein Existieren – oder besser gesagt: es ist ein verzögertes Sterben. All das geschieht im Namen der Kirche. Die vermeintlich christlichen Herren sind sogar noch stolz auf ihr Gebaren und verlieren sich in Selbstgefälligkeit. Ihre Gespräche erinnern dabei immer wieder auch an den Diskurs über HartzIV- und Sozialhilfeempfänger: Sei seien nutzlos, faul, lägen „rechtschaffenen“ Menschen auf der Tasche und schlügen sich auf Kosten der Allgemeinheit durchs Leben.

Und was macht die Obrigkeit mit Menschen, die sie als Last empfindet? Sie schafft sie sich vom Leibe und macht sie zum „Problem“ anderer. Oliver ist mit seinen neun Jahren zu alt und wird kurzerhand per Aushang „angeboten“: Wer sich seiner annimmt, ihm eine Lehrlingsstelle gibt, erhält fünf Pfund. Mit Geld lässt sich schließlich gut ködern. So wird Sargtischler Mr Sowerberry auf ihn aufmerksam und holt Oliver zu sich. Eine Besserung der Umstände ist für Oliver aber freilich nicht in Sicht. Das Leben hat es seit Olivers Geburt nicht gut mit dem Jungen gemeint, warum sollte sich das Blatt nun wenden?

Ja, „Oliver Twist“ ist bisher wirklich trostlos und schonungslos – und ist genau deshalb ein wichtiges Buch und ein Zeugnis seiner Zeit.

Noch etwas schwer tu ich mich allerdings mit der Übersetzung von Gustav Meyrink. Man merkt ihr an, dass sie bereits ein Jahrhundert auf dem Buckel hat. In Verbindung mit Dickens‘ verschachtelten Sätzen fiel es mir dadurch in den letzten Tagen schwer, mich nach einem anstrengenden Tag auf den Text einzulassen. Immer wieder musste ich einzelne (Ab-)Sätze mehrfach lesen. Das wird sich aber im Laufe der Lektüre (und mit etwas klarerem Kopf) bessern. Die Übertragung britischer Dialekte bzw. der Umgangssprache „einfacher“ Leute ins Bayrische bleibt hingegen gewöhnungsbedürftig. Dickens‘ Schreibstil ist indes – trotz der Schwere des Themas – ein Genuss und ich liebe, mit welchem Tonfall er die Abgründe der Gesellschaft einfängt. Damit gefällt mir „Oliver Twist“ bisher schon besser, als Dickens‘ Weihnachtserzählungen und ich glaube, die Vorweihnachtszeit ist genau der richtige Zeitpunkt, um die Geschichte des kleinen Waisenjungen zu lesen.

„[…] so focht Oliver seinen Kampf mit der Natur auf eigene Faust aus. Und die Folge davon war, daß er nach kurzem Kampfe atmete, nieste und endlich den Bewohnern des Arbeitshauses die Tatsache kund und zu wissen gab, daß er der Gemeinde eine neue Last aufgebürdet habe – das heißt, entschlossen sei, am Leben zu bleiben.“ (S. )


Charles Dickens: „Oliver Twist“, mit Illustrationen von George Cruikshank, aus dem Englischen übersetzt von Gustav Meyrink, dtv 2016, ISBN: 978-3-423-13613-7

 

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