Durian Sukegawas Roman „Kirschblüten und rote Bohnen“ ist eines jener Bücher, die beim Lesen eine wohltuende Ruhe und Wärme in mir auslösen, die erden und die Augen öffnen für die Schönheit und Kostbarkeit des Lebens und der Welt um uns herum. Dabei ist „Kirschblüten und rote Bohnen“ aber weder kitschig, noch leichte Kost. Bittersüß und in leisen Tönen changiert das Buch zwischen den Grausamkeiten und Geschenken, die uns Menschen widerfahren.

In „Kirschblüten und rote Bohnen“ begleiten wir den Dorayaki[1]-Verkäufer Sentaro und die 76-jährige Tokue. Sentaro ist von seinem Leben frustriert und fühlt sich wie in einem Hamsterrad gefangen. Eigentlich träumt er seit jeher davon, Schriftsteller zu sein. Doch in seiner Jugend geriet er in die falschen Kreise, musste schließlich eine Haftstrafe verbüßen und hat nun eine Menge Schulden. Um diese abzustottern, arbeitet er unmotiviert und allein in einem kleinen Dorayaki-Imbiss – obwohl er selbst keine Dorayaki mag. Abends ist der Sake sein treuer Begleiter.

Eines Tages steht plötzlich Tokue vor Sentaros Imbiss – nicht als Kundin, sondern als Bewerberin. Trotz ihres Alters möchte Tokue als Aushilfe bei Sentaro anfangen. Um das Geld scheint es ihr dabei aber kaum zu gehen. Sentaro hält wenig von dieser Idee: Wie sollte ihm diese alte Frau eine Hilfe sein? Doch Tokue bleibt hartnäckig und trifft den wunden Punkt des Imbisses: Die Dorayaki sind nicht sonderlich schmackhaft und könnten deutlich besser sein und somit mehr Kundschaft anziehen. Tokue selbst blickt auf über 50 Jahre Erfahrung in der Zubereitung des An, also der für die Dorayaki benötigten Paste aus roten Bohnen, zurück – eigentlich ein Gewinn für den Imbiss. Sentaro ist dennoch nicht überzeugt, auch weil er die Reaktion der Besitzerin des Dorayaki-Standes fürchtet. Nach langem Überlegen und einer Kostprobe von Tokues fantastischem An gibt Sentaro aber schließlich nach. Fortan bereitet Tokue regelmäßig das An für den Dorayaki-Imbiss vor und weiht Sentaro in die aufwändige Zubereitung ein. Ausführlich schildert Durian Sukegawa dieses Prozedere und die erste Hälfte des Romans konzentriert sich stark auf die feine Kunst des An-Kochens. Doch genau wie Sentaro wurde auch ich als Leserin nie müde, Tokue über die Schulter zu schauen. Wenn sich Tokue in die mehrstündige Zubereitung vertieft, hat das jedes Mal etwas Feierliches, fast schon Meditatives. Selbst etwas so Kleines wie eine Süßspeise wird dadurch zu etwas ganz Kostbarem. Gutes Essen ist mehr als nur sättigend, es berührt die Sinne, überrascht und ist purer Genuss. So dauert es auch nicht lang, bis das Buch den eigenen Appetit anregt.

Tokues Leidenschaft und Können bleiben natürlich nicht unbemerkt und immer mehr Menschen kaufen Dorayaki bei Sentaro. Unter den Stammkunden sind vor allem die Berufstätigen, die sich nach ihrem Arbeitstag auf die Süßigkeit freuen, sowie die Mädchen der nahegelegenen Schule. Eine von ihnen ist die ruhige, meist allein anzutreffende Wakana, die im späteren Verlauf des Buches noch eine Art Freundschaft zu Tokue und Sentaro aufbauen wird.

Trotz des steigenden Umsatzes achtet Sentaro aber streng darauf, dass sich Tokue nur im hinteren Bereich des Ladens aufhält, wo die Kundschaft sie nicht sieht. Das liegt weniger an Tokues Alter und der Tatsache, dass Sentaro sie ohne Erlaubnis der Ladenbesitzerin eingestellt hat, sondern vor allem an Tokues Händen. Als Kind litt Tokue an der Hansen-Krankheit, die den meisten wohl eher unter dem Begriff „Lepra“ bekannt ist. Zwar ist Tokue längst geheilt und die Hansen-Krankheit in Japan nicht mehr ansteckend, doch blieben Tokues Finger steif und das Stigma, das den ehemaligen Kranken anhaftet, ist noch immer groß.

Hier zeigt sich dann auch der wesentliche Unterschied des Buches zu seiner ansonsten wirklich guten Verfilmung: Der Film von Naomi Kawase konzentriert sich stark auf die Geschehnisse um den Dorayaki-Stand. Die Vergangenheit Tokues (eindrücklich gespielt von der im vergangenen September verstorbenen Kirin Kiki) wird erst zum Ende hin kurz und eher vorsichtig aufgegriffen. Damit hat der Film leider die Chance vertan, das Publikum für die Hansen-Krankheit und die Ausgrenzung der einst an ihr Erkrankten zu sensibilisieren. Die Vorlage von Durian Sukewaga ist da deutlich offensiver, ausführlicher und informativer, ohne jedoch belehrend zu wirken. Nahezu die gesamte zweite Hälfte des Buches hat Sukegawa der Hansen-Krankheit und Tokues Vergangenheit geschenkt. Er erzählt, wie die Krankheit Tokue aus ihrer Umgebung riss und ihrer Familie beraubte, berichtet, dass sie und die anderen Erkrankten jahrzehntelang das Sanatorium nicht verlassen durften und schildert, dass die einst Erkrankten zwar im Jahr 1996 rein rechtlich betrachtet ihrer Freiheit zurück erlangten, aber eine wirkliche Eingliederung in die Gesellschaft nicht möglich war.

Das alles macht „Kirschblüten und rote Bohnen“ zu einem Roman, der zwischen Leichtigkeit und Schwere balanciert, unterhält und aufrüttelt zugleich; erzählt in einfacher, aber wirkungsvoller Sprache, die uns das köchelnde An riechen und das Rascheln des Kirschbaumes hören lässt.

Fazit:

Ein sehr feinfühliger, leiser Roman, der zunächst den Appetit anregt und anschließend durch eine ernste Thematik lange nachhallt. Eines der schönsten Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe!

Durian Sukegawa: „Kirschblüten und rote Bohnen“, aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe, DuMont Buchverlag 2016, ISBN: 978-3-8321-6412-6


[1] Dorayaki sind Pfannkuchen mit einer Füllung aus roten Bohnen. Die runde Form erinnert an einen Gong, daher auch der Name „Dorayaki“ („gebackener Gong“).