Mathias Malzieu_Der kleinste Kuss der WeltEs gibt Geschichten, die derart skurril oder absurd sind, dass sie aus der Feder der meisten Autoren nur peinlich trashig würden. Nur wenige Autoren vermögen es, selbst die merkwürdigste Idee zu einer magisch-schönen Geschichte zu verwandeln. Einer dieser Wunder-Schriftsteller ist Mathias Malzieu, der mit seinem Edward-Scissorhands-ähnlichen Roman „Die Mechanik des Herzens“ ganze Leserscharen in seinen Bann zog und längst kein Geheimtipp mehr ist.

Mit „Der kleinste Kuss der Welt“ liegt seit Ende August dieses Jahres der dritte ins Deutsche übersetzte Roman des Musikers und Autors vor – und wie die beiden Vorgänger steckt auch dieser voller Magie, Poesie, Liebe und Skurrilitäten. Im Mittelpunkt steht erneut ein verliebter Mann, der dieses Mal jedoch kein Mensch mit Kuckucksuhrenherz ist oder in der Metamorphose zum Vogel steckt – nein, unser aktueller Ich-Erzähler ist ein Erfinder, der just von seiner Liebsten sitzengelassen wurde und nun wieder von vorne anfangen muss. Während eines Tanzabends begegnet er einer betörend schönen und geheimnisvollen Frau – doch als er sie küsst, wird sie unsichtbar und verschwindet. Unser nun neu-verliebter, romantischer Erfinder will sich damit nicht zufrieden geben und setzt sich in den Kopf, die unbekannte Unsichtbare wiederzufinden. Unterstützung erhält er dabei von einem alten Detektiv und dessen Papagei. Papagei? Ja, Papagei – aber natürlich kein gewöhnlicher, sondern einer, der Frauen anhand von Stimme, Orgasmen, Geruch und den Empfindungen des verliebten Mannes ausfindig machen kann. Das hört sich merkwürdig an und tatsächlich dachte ich anfangs: „Monsieur Malzieu, jetzt haben Sie es aber gehörig übertrieben mit Ihrer übersprudelnden Fantasie. Wie soll ich das denn ernst nehmen können?“ Doch wie ich eingangs erwähnte, gehört Mathias Malzieu zu dieser seltenen Gattung von Autoren, die jeder Idee einen großartigen Zauber verleihen können. Und so gelingt es dem Frontmann der Band Dionysos auch in diesem Fall, zu überzeugen und etwas von der Verliebtheit des Protagonisten auf uns Leser zu übertragen. Das liegt vor allem an Malzieus unverkennbarem poetischen – und von Sonja Finck wieder hervorragend ins Deutsche übertragenen – Stil, der selbst die unangenehmsten Ereignisse zauberhaft und wunderschön klingen lässt, aber auch an den kreativen Wortschöpfungen, außergewöhnlichen Metaphern und nicht zuletzt den einzigartigen Plot- und Charakterideen. Malzieus Bücher zu lesen, ist, als wäre man trunken vor Liebe und Endorphin-Zaubertränken – man verfällt von der ersten Seite an dem Charme des Schreibstils und lässt sich blindlings von ihm forttragen.

Verglichen mit „Die Mechanik des Herzens“ konnte mich „Der kleinste Kuss der Welt“ aber trotz all dieser stilistischen Wunderbarkeiten nicht durchgehend packen. Ich mag die Idee, die Figuren, von denen ich vor allem Apothekerin Louisa ins Herz schloss und auch das Ende … irgendwie zumindest, denn einerseits habe ich mir genau diese Auflösung gewünscht, andererseits war ich fast ein wenig enttäuscht, dass mir mein Wunschende gewährt wurde (sind wir Leser nicht ein merkwürdiges Völkchen?). Doch so intensiv mitgefiebert, verzweifelt, geflucht, geschwärmt und mich gefreut wie bei „Die Mechanik des Herzens“ habe ich mich leider nicht. Allerdings liegt das nicht an „Der kleinste Kuss der Welt“ selbst! Das „Problem“ ist einfach der durch und durch perfekte Vorgänger, den man wohl nicht oder höchstens sehr schwer übertrumpfen kann. Abgesehen davon war „Die Mechanik des Herzens“ komplexer: Erstreckt sich die Handlung in „Der kleinste Kuss der Welt“ lediglich über ein paar Monate, begleiteten wir den Protagonisten aus „Die Mechanik des Herzens“ fast ein ganzes Leben lang – logisch, dass man zu Charakteren, denen man beim Aufwachsen zusehen kann, eine stärkere Bindung aufbaut. Daher ist meine weniger intensive Leseliebe keineswegs auf die Qualität von „Der kleinste Kuss der Welt“ zurückzuführen und der Roman um den Erfinder und seine unsichtbare Geliebte ist die Lektüre mehr als wert.

Perfekte Einheit: Die Poesie Mathias Malzieus und die Kunst Benjamin Lacombes

Perfekte Einheit: Die Poesie Mathias Malzieus und die Kunst Benjamin Lacombes

Wer es wie ich liebt, wenn Autoren und andere Kreative ihre einzelnen Projekte miteinander verbinden, hat bei „Der kleinste Kuss der Welt“ übrigens gleich doppelten Grund zur Freude: Zum einen hat die Covergestaltung erneut der einfach nur grandiose Benjamin Lacombe übernommen, was Malzieus Bücher zu einer optischen Einheit macht; zum anderen wird in einer Szene in „Der kleinste Kuss der Welt“ der von Mathias Malzieu/ Dionysos erfundene Tanz Bird’n’Roll getanzt, zu dem Dionysos einen Song komponierte, welcher wiederum auf Malzieus Roman „Metamorphose am Rande des Himmels“ beruht. Allein deswegen lohnt es sich, Malzieus Gesamtwerk weiter zu verfolgen – ich bin überzeugt, uns wird in den kommenden Jahren noch viel Wunderbares aus seiner Feder erwarten.

Fazit:

Poesie, Liebe und Erotik pur, dazu ein Schuss Skurrilität – Mathias Malzieus „Romanrezept“ ist erneut aufgegangen und sorgt für puren Lesegenuss.

Mathias Malzieu: „Der kleinste Kuss der Welt“, aus dem Französischen übersetzt von Sonja Finck, carl’s books 2015, ISBN: 978-3-570-58547-4

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