Vergangenes Jahr verzauberte „Dionysos“-Frontmann Mathias Malzieu seine Leser mit dem märchenhaft-düsteren „Die Mechanik des Herzens“. Diesen August erschien mit „Metamorphose am Rande des Himmels“ nun ein weiterer Roman, der von dem ungewöhnlichen, unverwechselbaren Stil Malzieus geprägt ist – und dabei doch anders.
„Metamorphose am Rande des Himmels“ ist die Geschichte von Tom Cloudman, der sein Leben lang davon träumt, fliegen zu können. Nicht mit einem Flugzeug, sondern wie ein Vogel. Seit seiner Kindheit versucht er immer wieder, sich in der Luft zu halten – doch jeder Flugversuch endet im Sturz, was Tom schnell zum Publikumsmagnet macht. Seine Flugexperimente werden fortan Berufung: Als Stuntman zieht Tom Cloudman durchs Land – ein Kunststück spektakulärer als das andere. Mit jedem Stunt zieht Tom mehr begeisterte Zuschauer an und schon bald eilt ihm sein Ruf voraus. Doch während er mit jedem Stunt versucht, frei wie ein Vogel durch die Lüfte zu gleiten, offenbart ihm schon bald ein Unfall ein schweres Schicksal. Gerade Tom, der die Freiheit liebt und sich gegen Konventionen und Zwänge aufbäumt, muss seinem Ende in einem modernen Käfig entgegenblicken: Gefesselt an einen Tropf und gelähmt vor Schmerzen und Tabletten ist Tom fortan eingesperrt – in der Sterilität des Krankenhauses, aber auch in seinem eigenen Körper. Dennoch hält Tom am Traum vom Fliegen fest. Als er dann auf dem Krankenhausdach auf die Vogelfrau Endorphina trifft, die ihm ein neues Leben als Vogel ermöglichen könnte, scheint sich sein sehnlichster Wunsch zu erfüllen. Auch die Gegenleistung – der Liebesakt mit der attraktiven Frau – erscheint ihm nicht als hoher Preis. Doch wie immer gilt: Man sollte vorsichtig sein mit dem, was man sich wünscht. Tom Cloudmans Metamorphose in einen Vogel hat Konsequenzen – für ihn, aber auch für die Vogelfrau – und der ehemalige Stuntman muss realisieren, dass jeder Neubeginn zugleich ein Ende bedeutet …
“Vögel werden im Himmel beerdigt. Noch die eleganteste Wolke ist voll von ihren starren kleinen Leichen.
Es heißt, einer von 10 180 Regentropfen sei die Träne eines toten Vogels und eine von 16 474 Schneeflocken das Gespenst eines Vogels, der sich vom himmlischen Mutterkuchen gelöst hat.”
(Mathias Malzieu: “Metamorphose am Rande des Himmels”, carl’s books 2013, S. 7)
Mathias Malzieu erzählt uns die Geschichte von Tom Cloudman auf eine weniger märchenhaft-poetische Weise wie „Die Mechanik des Herzens“, aber dennoch genauso individuell, bild- und wortgewaltig. Der französische Musiker und Autor nutzt eine Vielzahl – teils ungewöhnlicher – Metaphern und über allem schwebt die Farbe Rot: rote Kanarien, rote Beete, rotes Blut, rot wie die Liebe. Dabei verflicht Malzieu gekonnt Fantasy mit modernem Drama, Melancholie mit Humor, Schwere und Ernsthaftigkeit mit Leichtigkeit und Lebendigkeit. So wird „Metamorphose am Rande des Himmels“ zu einer magischen Erzählung, die zwar von ernsten Themen und Traurigkeit geprägt ist, dabei allerdings nie in eine beklemmende Herz-Schmerz-Geschichte abdriftet.
„Metamorphose am Rande des Himmels“ steckt zudem wieder voll herrlich-ungewöhnlicher Ideen. So lebt und fährt Tom Cloudman während seiner Zeit als Stuntman in einem eigens umfunktionierten Sarg durchs Land. Malzieu schildert dieses Mobil dabei so gekonnt, dass man es nicht nur förmlich vor sich sieht, sondern auch dessen Enge, aber auch Unabhängigkeit fühlt und in Gedanken wie Tom in diesem Multifunktionssarg liegt und in die unendlichen Weiten des Sternenhimmels blickt. Ähnlich lebendig schildert der Autor auch die restliche Geschichte. Insbesondere Toms Leben vor dem Krankenhausaufenthalt wird nur allzu greifbar. Man fühlt die Lebendigkeit und möchte gerne länger verweilen in diesem rasanten, einzigartigen Lebensstil, doch dann reißt die tödliche Diagnose Tom und den Leser aus diesem heraus. Stattdessen sieht sich Tom der Einöde des Krankenhauses ausgesetzt und das nun ausgebremste Leben des Stuntmans spiegelt sich in einem langsamerem Erzähltempo wieder. Eine weitere Veränderung in der Erzählweise folgt mit Beginn der Metamorphose: Erfährt der Leser zunächst alles aus der Ich-Perspektive von Tom, gesellt sich bald Endorphina hinzu, die sukzessive die Erzählerposition übernimmt.
Abgerundet wird dieses einzigartige Leseerlebnis durch die erneut wunderbare Covergestaltung von Benjamin Lacombe. Mit dem tiefschwarzen Sternenhimmel und der Abbildung des Paares orientiert sich das Motiv an jenem von Malzieus vorangegangenem „Die Mechanik des Herzens“ und zieht so einen roten Faden durch das Werk des französischen Autors. Im Inneren des Umschlags sehen wir hingegen Paris aus der Sicht Toms: über uns das Firmament, unter uns der unter Wolken hindurchscheinende Eiffelturm. Dabei erstrahlt alles in der für diesen Roman prägenden Farbe Rot, was Buchgestaltung und Handlung perfekt verbindet. Ein weiteres, liebevoll gestaltetes Detail sind die mit Federn und Vögeln verzierten Initialen zu Beginn der Kapitel.
Fazit:
Mathias Malzieus „Metamorphose am Rande des Himmels“ ist moderner und von einer weniger märchenhaften Poesie als „Die Mechanik des Herzens“, aber überzeugt in gleicher Weise mit einer gewaltigen Erzählkraft, viel Metaphorik und herrlich ungewöhnlichen Ideen. Es ist eine Geschichte über Leben und Tod, über Freiheit, Liebe und über das Wünschen. Die Erzählweise selbst entwickelt sich dabei stets weiter, passt sich an den Verlauf der Handlung an, ganz gleich welchen Weg diese auch einschlägt. So hat Mathias Malzieu erneut bewiesen, dass seine Romane zu den wohl ungewöhnlichsten gehören, die man auf dem Buchmarkt finden kann.
Für die Bereitstellung des Rezensionsexemplares bedanke ich mich vielmals bei carl’s books.
Geplauder