Wie vermutlich bei den meisten war auch meine Kindheit sehr von Märchen geprägt und es verging kaum ein Tag, an dem mir nicht mindestens eines vorgelesen oder erzählt wurde. Im Elternhaus waren es meist die Grimmschen Märchen, die mich in ferne Zeiten entführten und stets ein gutes Ende nahmen. Ganz anders verhielt sich die Märchenstunde bei meiner Oma: Hier lauschte ich gebannt und fasziniert jenen Märchen, die eine weit traurigere Geschichte erzählten. Besonders geliebt habe Hans Christian Andersens „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, das noch heute zu meinen Lieblingsmärchen zählt und den Grundstein dafür legte, dass ich Andersens Märchen so schätze.

Melancholische Märchen und Meer – mit beidem kann man immer wieder aufs Neue mein Leserinnenherz erobern und wenn beides wie in Andersens „Die kleine Meerjungfrau“ zusammentrifft, dann ist das Leseerlebnis perfekt.

In einem seiner wohl bekanntesten Märchen erzählt der Däne die Geschichte einer jungen Meerjungfrau, die sich nach der Welt der Menschen sehnt, sich verliebt und bereit ist, für ihre Liebe und ihren Traum vom Menschenleben alles zu opfern, was ihr teuer ist. Im Gegensatz zur kindgerechten Adaption durch Disney wartet auf unsere Meerjungfrau jedoch kein gutes Ende voll glücklicher Personen und erfüllter Sehnsüchte, sondern Kummer, traurige Erkenntnis – und ein feiner, tröstender Hoffnungsschimmer.

Andersens Geschichte ist in seiner Tragik und seinen mythologischen Themen stark an die klassische Undinen-Sage angelehnt und greift damit Wünsche und Träume auf, die weniger eindimensional oder oberflächlich sind als in manch anderen Märchen. Die kleine Meerjungfrau sehnt sich nicht einfach nur nach der Liebe eines Mannes oder dem bunten Menschenleben, das ihr fremd ist. Seit ihrer Kindheit spürt sie, dass es mehr geben muss als das Leben unter Wasser und dass es so viel mehr zu entdecken und zu erleben gibt. Basierend auf den Erzählungen ihrer Großmutter und ihrer älteren Schwestern träumt sie von fernen Welten, Wundern und Möglichkeiten, die ihr unter dem Meer stets verwehrt bleiben würden. Mit ihrem ersten Ausflug an die Meeresoberfläche zu ihrem 15. Geburtstag und der Rettung des jungen Prinzen manifestieren sich diese Träume und Sehnsüchte und je öfter sie sich in der Nähe der Menschen aufhält, desto mehr möchte sie ein Teil dieser Welt sein. Doch es gibt noch etwas anderes, das sich die kleine Meerjungfrau wünscht, etwas, das viel tiefsinniger und schwerer zu erlangen ist.

„‚ich wollte alle meine hundert Jahre, die ich zu leben habe, dafür hingeben, einen Tag ein Mensch zu sein und Teil haben an der himmlischen Welt! […] Kann ich denn gar nichts tun, um eine unsterbliche Seele zu gewinnen?'“

Obwohl Meerjungfrauen und Wassermänner dreihundert Jahre alt werden, empfindet unsere kleine Meerjungfrau dieses Leben als trauriger und bedeutungsloser als das weit kürzere Leben der Menschen. Denn im Gegensatz zu den Menschen verfügen Meerjungfrauen über keine Seele. Nach ihrem Tod verwandeln sie sich in Meerschaum und werden vergessen. Nichts bleibt mehr von ihnen oder zeugt von ihrem Dasein. Unsere kleine Meerjungfrau sehnt sich daher nach einer unsterblichen Seele, die nach ihrem Tod weiter besteht und zu höheren Sphären aufsteigt. Dafür ist sie bereit, ihr bisheriges Leben und ihre Familie hinter sich zu lassen und ihre einzigartige Singstimme zu opfern.

Dieses Streben danach, dem eigenen Leben eine höhere Bedeutung zu geben, die Sehnsucht nach Mehr, der innere Drang, ein anderes Leben zu leben, als das scheinbar vorherbestimmte, sind klassische, zeitlose Themen und einer der Gründe, weshalb gerade dieses Märchen aus Andersens Feder so viel Bekanntheit und Beliebtheit genießt.

Optisch wurde das Märchen nun von Künstler Anton Lomaev bildgewaltig und atmosphärisch in Szene gesetzt. Die Welten unter und über Wasser sind in ihrer Farbgebung klar voneinander getrennt und entfalten jeweils ihre ganz eigene Pracht, sodass ich als Leserin einerseits die Faszination der Meerjungfrau für die Menschenwelt nachempfinden kann, gleichzeitig aber in der Schönheit und Weite des Meeres versinke und nicht mehr auftauchen möchte. Gerade bei den Unterwasserszenen hat Lomaev opulente, beeindruckende Momente geschaffen: Bunte Korallenriffe, ein Schloss aus Muscheln und Perlen und eine schier endlose Vielfalt an Meeresbewohnern laden zum Staunen ein. In den detailreichen Bildern gibt es so vieles zu entdecken, das derart gut versteckt oder getarnt ist, dass man auch schon mal mehrere Minuten vor einem Motiv verweilen kann. Ganz deutlich ist dabei auch das Gute und Schöne vom Düsteren und Bedrohlichen abgegrenzt: Während das Zuhause der Meerjungfrauen hell und bunt erstrahlt, bekommen die Wesen im Zuhause der bösen Hexe hässliche, Furcht einflößende Züge; statt auf friedliche Delfine, Wale und Anemonenfische treffen wir bei der Hexe auf Haie, Meeraale und Tiefseefische mit langen, scharfen Zähnen, umgeben von Schiffswracks und menschlichen Gebeinen. Auf diese Weise erzählen Anton Lomaevs Illustrationen das Märchen auf ihre ganz eigene, wortlose Art, harmonieren dabei aber in ihrem Grundton und den abgebildeten Elementen immer mit Andersens Text und Erzählstil.

Fazit:

Hans Christian Andersens „Die kleine Meerjungfrau“ ist mit seiner zeitlosen Erzählung über Sehnsüchte, Schicksal und den Sinn eines Lebens zu Recht ein beliebter Klassiker. Künstler Anton Lomaev hat dieses Märchen nun um prächtige, detailverliebte Bilder ergänzt, die zu einer Entdeckungsreise durch die Tiefen des Meeres einladen. Ein wahrer Schatz für Liebhaber illustrierter Bücher und ein Muss für die heimische Märchenbibliothek.

Hans Christian Andersen: „Die kleine Meerjungfrau“ (gekürzte Version in der Übersetzung von 1862), illustriert von Anton Lomaev, Wunderhaus Verlag 2017, ISBN: 978-3-946693-01-7