Miss Booleana und ich sind zurück aus Maycomb. Wie ihr schon in unseren Zwischenberichten erfahren konntet, war die kurzzeitige Rückkehr nach Alabama für uns nicht gerade die beste Reise aller Zeiten. Wir langweilten uns, wurden enttäuscht und hatten nur wenige wirklich gute Momente – erst im letzten Drittel kam alles so richtig in Schwung.
Nach 200 lahmen Seiten kommt Harper Lee gegen Ende doch noch zur Sache. Warum nicht gleich so? #GeheHinStelleEinenWächter #ZurückNachMaycomb
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 17. April 2016
Nachdem die ersten 200 Seiten prall mit Belanglosigkeiten gefüllt waren, gibt es im letzten Drittel Konfrontation, Eskalation, Zwist und Drama – zwar nicht im Sinne von sich überschlagendenen Ereignissen, sondern in Form verbalen Schlagabtauschs, aber trotzdem Staub aufwirbelnd genug, um als Leser durch die Seiten zu fliegen. Zugegeben, das letzte Drittel ist sehr dialoglastig und fordert die Leserschaft, aber 1) sind Dialoge immer noch besser als Scouts ständige sich im Kreis drehende Monologe und 2) bekommt „Gehe hin, stelle einen Wächter“ endlich mehr Tiefgang. Debatten über Politik und Gesellschaft, Ethik und Moral, Recht und Gerechtigkeit; Scout, die ihrem Weltbild einen neuen Rahmen geben muss; Wertvorstellungen, die einen Keil zwischen geliebte Menschen treiben – in die letzten 100 Seiten hat Harper Lee eine ordentliche Ladung Konflikte und Themen hineingepresst, Diskussionsstoff geliefert und vieles angesprochen, worauf sie jetzt eine gelungene Story bauen könnte.
Scout vergleicht ihren Vater mit Hitler &nennt ihn „ringelschwänzigen Scheißkerl“. Wenn Rassismus Familien spaltet… #ZurückNachMaycomb
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 18. April 2016
Stattdessen handelt sie aber alles in hitzigen Gesprächen ab, bei denen die Charaktere lange um den heißen Brei herum reden …
@Phantasienreise ich hatte ja viel Geduld, aber an der Stelle war ich richtig sauer auf das Buch. Scout. Ach, alle! #ZurückNachMaycomb
— MissBooleana (@MissBooleana) 18. April 2016
… oder sich teils selbst widersprechen, was wieder einmal deutlich macht, dass „Gehe hin, stelle einen Wächter“ eben nur ein Entwurf war und eine umfangreiche Überarbeitung mit Hilfe eines Lektors benötigt hätte. Der hätte womöglich auch so manche nervtötende, sich ständig wiederholende Phrase gestrichen …
Henry spricht Scout in einer Diskussion auf nur einer Seite 3x mit „Schatz“ an. Schimpfwörter wären erträglicher gewesen. #ZurückNachMaycomb
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 17. April 2016
… und das Ende ein wenig runder gemacht, denn das kommt ziemlich überrumpelnd und erscheint so gar nicht schlüssig zum vorherigen Verlauf des Buches, insbesondere nicht zu Scouts Verhalten.
@MissBooleana Für mich passte das nicht so ganz & wirkte eher, als brauche Harper Lee jetzt einen schnellen Schluss ? #ZurückNachMaycomb
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 21. April 2016
Am gelungensten – nicht nur im letzten Drittel, sondern im ganzen Buch – ist Scouts Onkel Jack. Mit ihm hat Harper Lee eine vielschichtige, einzigartige Person geschaffen, die trotz oder gerade wegen ihrer diversen Macken und Fehlbarkeiten unglaublich sympathisch ist. Mit Onkel Jack hätte ich mich auch gern zu Tee und Biscuits getroffen und mit ihm philosophiert.
Also ich kann Onkel Jack gänzlich verstehen… #ZurückNachMaycomb pic.twitter.com/II3rfKYGrH
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 17. April 2016
Traurigerweise wahr… #ZurückNachMaycomb pic.twitter.com/bTwLnBiBm0
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 17. April 2016
#ZurückNachMaycomb #GeheHinStelleEinenWächter #Vorurteile #Vernunft pic.twitter.com/Gf5PIBV9cz
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 20. April 2016
Fazit:
Aus rein schriftstellerischer Sicht ist „Gehe hin, stelle einen Wächter“ wahrlich keine Glanzleistung und es ist mehr als nachvollziehbar, warum Verlage Harper Lees Erstling damals abwiesen: fehlende Spannungskurve, zu viele Banalitäten, Widersprüchlichkeiten bei Handlungen und Argumentationen von Charakteren, zu viel Gerede bei wenig Ereignissen und ein Ende, das wirkt, als hätte Harper Lee keine Lust mehr gehabt und wolle nur fix ihre Geschichte abschließen. Gleichzeitig frage ich mich, ob dieser Roman überhaupt „funktionieren“ kann: Betrachtet man das Buch für sich alleinstehend, als hätte es „To Kill a Mockingbird“/ „Wer die Nachtigall stört“ nie gegeben (also so, wie es ursprünglich geplant war), verfehlen viele Aspekte gänzlich ihre Wirkung, bspw. wäre für den Leser nie ganz nachvollziehbar gewesen, warum für Scout eine Welt zusammenbricht, als sie ihren einst so vorbildlichen Vater als Mitglied einer rassistischen Organisation sieht, stattdessen wäre es wohl nur ein lahmer Coming-of-Age-Roman mit einer hysterischen Protagonistin gewesen. Als Fortsetzung von „To Kill a Mockingbird“ funktioniert dieses Buch allerdings auch nicht richtig, da es zu gravierende inhaltliche Unstimmigkeiten zwischen den beiden Werken gibt, insbesondere, was Scouts Kindheit betrifft. Daher schließe ich die Buchdeckel mit dem Gedanken, dass es zwar ganz interessant gewesen ist, einmal Harper Lees ursprüngliche Idee kennengelernt zu haben, dass „Gehe hin, stelle einen Wächter“ aber wahrlich kein Werk ist, das die Welt braucht (nur Onkel Jacks dürfte es gerne mehr geben). Wer es trotzdem lesen möchte, sollte auf das englische Original mit seinem sympathischen Südstaaten-Slang zurückkommen.
Alle Beiträge zum gemeinsamen Lesen von „Gehe hin, stelle einen Wächter“:
♦ Ankündigung auf Phantásienreisen: #ZurückNachMaycomb – Miss Booleana und Phantásienreisen lesen „Gehe hin, stelle einen Wächter“
♦ Erster Zwischenbericht bei Miss Booleana: Wir lesen … „Gehe hin, stelle einen Wächter“ #ZurückNachMaycomb (I)
♦ Erster Zwischenbericht auf Phantásienreisen: #ZurückNachMaycomb Teil I Oder: Ain’t feels like home …
♦ Zweiter Zwischenbericht bei Miss Booleana: Wir lesen … „Gehe hin, stelle einen Wächter“ #ZurückNachMaycomb (II)
♦ Romanbesprechung bei Miss Booleana: ausgelesen: Harper Lee „Gehe hin, stelle einen Wächter“
Den gesamten Leseraustausch zwischen Miss Booleana und mir findet ihr auf Twitter unter #ZurückNachMaycomb.
Mensch, das war aber auch ein Ritt. Sehr seltsam, v.A. wenn man vergleicht wie krass das Buch im Gegensatz zum Mockingbird abfällt. Außerdem fällt es mir schwer zu glauben, dass Harper Lee die Genehmigung erteilt hat das zu veröffentlichen. Inzwischen denke ich, dass an den ganzen Verschwörungstheorien was dran ist. Glaube in der Zeit wurde die Behauptung aufgestellt, dass ein gewiefter Lektor das der kranken Frau irgendwie eingeredet hat … . Sie muss wohl immer vermutet haben, dass wenn sie nochmal einen Roman schreibt, der nur eine Enttäuschung im Gegensatz zum Mockingbird werden kann. Da hat sie wohl recht gehabt, vermute ich mal…aber trotzdem macht mich das etwas traurig. Keine weiteres … schade. Und dann ausgerechnet das? Noch mehr schade.
Da geb ich dir vollkommen recht! Ich war auch erstaunt, wie stark die beiden Bücher von ihrer Qualität her auseinanderdrifteten. Vor dem Hintergrund wundern mich auch die hartnäckigen Gerüchte, dass Truman Capote angeblich am Mockingbird mitgewirkt haben soll, nicht mehr so sehr. Und wie du zweifel ich auch daran, dass die Veröffentlichung des Wächters wirklich in Harper Lees Sinn war. Daran habe ich schon von Beginn an gezweifelt und wollte das Buch ursprünglich aus diesem Grund auch nicht lesen. Aber dann wollte ich eben doch auch mehr über Jem & Co. lesen und da ich das Buch dank Lovelybooks geschenkt bekam, wäre es auch dumm gewesen, sich kein eigenes Bild vom Roman zu machen. Das zeigt aber letztlich auch 1) dass jemand durchaus einmal eine gute Story schreiben kann, das jedoch nicht bedeutet, dass in dieser Person auch wirklich ein hochtalentierter Schriftsteller steckt und 2) wie wichtig auch Lektoren sind.
Tja, zumindest können wir zwei jetzt mitreden und uns in Gesprächen mit einer eigenen Meinung einbringen ;)