Miss Booleana und ich haben zwei Drittel unserer zweiten Reise nach Maycomb hinter uns – und die Eindrücke der ersten Tage sind unverändert: Irgendwie ist alles recht fad, belanglos und blass, selbst in den brisanten Momenten bleibt der Pageturner-Effekt aus.

Ein bisschen fühlt sich die Rückkehr nach Maycomb für mich an wie ein Besuch in der kleinstädtischen Heimat, die man bewusst verlassen (und hinter sich gelassen) hat: Es ist ganz nett, mal wieder vertraute Personen und Orte um sich zu haben und Erinnerungen aufleben zu lassen, aber irgendwie ist man doch froh ob der Gewissheit, dass der Aufenthalt nur kurzweilig ist und man nach einigen Tagen wieder in das selbstgewählte Leben zurückkehren kann.

Auf den Seiten 100 bis 200 erleben wir weiterhin Oberflächlichkeiten, Banalitäten und obwohl das Kernthema Rassismus inzwischen aufgegriffen wurde, wird der öde Alltag fortgesetzt und es passiert quasi nichts!

Ein Schwarzer hat einen Weißen mit seinem PKW angefahren und dabei getötet. Dieser Schwarze ist noch dazu Calpurnias Enkel. Das wäre zunächst eigentlich interessanter Stoff und auch Scouts Besuch bei Calpurnia, der deutlich macht, dass zwischen beiden trotz all der gemeinsamen Jahre eine immense Kluft besteht, ist ein theoretisch guter Moment. Aber wie gesagt, das ist alles nur „eigentlich“ und „theoretisch“, denn Harper Lee hat es in keiner der Schlüsselszenen geschafft, mich wirklich zu fesseln. Alles wirkt beiläufig und nebensächlich. Scout dagegen denkt viel – zu viel! Es sind die immer gleichen Gedanken, die in ihrem Kopf endlose Kreise ziehen, es sind immer dieselben Fragen, die auch nach der zehnten Erwähnung keine Antwort finden und die mich als Leserin in ihrer Redundanz schnell ermüdeten und langweilten. Wir erfahren insgesamt sehr wenig; unzählige Seiten blätterte ich um ohne viel davon mitzunehmen; so vieles hätte Harper Lee in deutlich weniger Sätzen erzählen können. Da ist zum Beispiel die Kaffeevisite, die Alexandra für Scout veranstaltet und die nichts weiter ist als ein Lästern und Tratschen in gesellschaftsfähigem Rahmen. Auf vier Seiten gibt Harper Lee das oberflächliche, belanglose Geschnatter der Klatschbasen wieder, immer nur in Teilsätzen, die ineinandergreifen und so umso stärker die Banalität des Ganzen unterstreichen. Was anfangs eine noch ganz clevere Darstellungsweise ist, hatte ich nach einer Seite mehr als satt, denn alles, was es zu sagen gibt, hat der Leser spätestens nach 5 Zeilen kapiert. Derart inhaltsleere, aber ausschweifende Textstellen gibt es leider zuhauf und so muss der Leser auch Scouts Bad in der Wanne kleinteilig Schritt für Schritt verfolgen – vom Aufdrehen des Wasserhahns über das Öffnen des Kleiderschrankes und das Legen des ausgewählten Kleides über ihren Arm bis hin zum Ablaufen des Wassers und Aufhängen des Handtuchs.

Lichtblicke für den Leser gibt es nur wenige. Diese entstammen oft winzigen Momentaufnahmen und innerfamiliären Situationen …

… oder Personenbeschreibungen. So erweist sich Scouts extravaganter Onkel Jack als Charakter, dem ich gerne mehr Raum in Harper Lees Romanen gewünscht hätte.

Ja, in Familien- und Charakterportraits, vor allem jene, die mit einer (unfreiwilligen) Komik einhergehen, brilliert Harper Lee regelrecht. Auch vereinzelte Querverweise zu „To Kill a Mockingbird“ wecken die Aufmerksamkeit des Lesers, wenngleich diese natürlich nur deswegen interessant sind, weil man die Vorgeschichte zu „Go Set a Watchman“/ „Gehe hin, stelle einen Wächter“ kennt.

Diese Brücken sind allerdings nicht immer ganz stimmig mit dem, was wir aus „To Kill a Mockingbird“ kennen.

„Gehe hin, stelle einen Wächter“ lässt sich daher nicht ohne Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte lesen, es sei denn, man betrachtet diesen Roman für sich alleinstehend und ohne Vergleich zum Vorgänger – dann wäre „Gehe hin, stelle einen Wächter“ aber wohl eine noch belanglosere Lektüre und böte dem Leser wohl fast gar nichts, worüber sich nachzudenken lohnen würde. Dabei greift Harper Lee etliche Problematiken auf, die viel Potenzial für eine tiefe und bedeutsame Auseinandersetzung bereithielten, beispielsweise wenn rassistische Hetzschriften völlig selbstverständlich in Wohnzimmern herumliegen wie die „Gala“ beim Frisör oder sich die Einwohner ihre Meinung auf vermeintliches Wissen aufbauen, das sie bei irgendwem nebenher aufgeschnappt haben und das sie ohne Hinterfragen nachplappern.

Dieses Potenzial verschenkt Harper Lee jedoch, indem sie politisch und gesellschaftlich relevante Fäden stets nur kurz aufgreift und sogleich wieder fallen lässt, um sich wieder in belanglose Alltäglichkeiten Maycombs zu stürzen.

Zusätzlich wirkt Scout als Charakter auf mich unausgewogen. In „To Kill a Mockingbird“ und auf den ersten Seiten von „Go Set a Watchman“/ „Gehe hin, stelle einen Wächter“ lernen wir eine Scout kennen, die schlagfertig ist und geradeheraus sagt, was ihr durch den Kopf geht. Doch im zweiten Drittel des „Wächters“ verkommt sie zu einem stillen Mäuschen. In ihren Gedanken rechnet Scout zwar mit allen ab, wagt aber nicht einmal den Versuch, ihre Meinung zu äußern. Sie fragt nicht einmal Atticus und Henry, was es mit der Bürgerversammlung auf sich hat und wieso ihr Vater, der zuvor (scheinbar) die Inkarnation ethischer und moralischer Korrektheit war, in einer derart rassistischen Vereinigung aktiv ist. Stattdessen stellt sie sich nur jede Stunde selbst die Fragen, ob all das wahr ist und ob sie es ist, die sich verändert hat oder Maycomb. Kurz: Scouts Weltbild ist erschüttert, aber eine aktive Auseinandersetzung mit der Situation in ihrer Heimat kommt ihr nicht einmal ansatzweise in den Sinn – lieber resigniert sie, wandelt apathisch durch den Tag und beklagt ihre eigene Situation. Für mich passt das nicht zu der Scout, die wir Leser ursprünglich kennenlernten. Es scheint eher, als lege Scout immer gerade die Eigenschaften an den Tag, die Harper Lee gerade so für die jeweilige Szene brauchte. So erfahren wir in einer Rückblende, dass Scout mit 11 Jahren noch nie das Wort „schwanger“ gehört hat. Das mag für die damalige Zeit an sich nicht ungewöhnlich gewesen sein, doch kann ich das bei Scout nicht glauben, wenn zuvor immer wieder betont wird, wie viel sie als Kind doch immer gelesen hat, dass sie seit ihrer frühesten Kindheit mit Texten für Erwachsene konfrontiert wurde, da Atticus seinen Kindern abends alles vorlas, was er gerade so in die Hände bekam und dass sie bereits Tante Alexandra über uneheliche Kinder schimpfen hörte. Calpurnia bringt dieses Dilemma gut auf den Punkt: „Du liest so viele Bücher und bist trotzdem das ahnungsloseste Kind, das mir je untergekommen ist …“ (S. 157). Harper Lee ist sich dieser charakterlichen Inkosistenz also durchaus bewusst gewesen, was diesen Logikfehler aber nicht akzeptabler macht.

Am meisten frustriert mich neben der inhaltlichen Nichtigkeit des Romans aber die deutsche Übersetzung. Der Südstaaten-Slang fehlt völlig und damit auch die großartige Atmosphäre der Kleinstadt in Alabama. Lediglich bei einer Handvoll Charaktere haben die beiden Übersetzer versucht, etwas Slang zu übertragen, was jedoch nur halbherzig umgesetzt wurde. Der Eismann Mr. Cunningham sagt zum Beispiel anfangs immer „nich“, spricht es dann aber plötzlich als korrektes „nicht“; Calpurnias Sohn Zeebo redet mal Hochdeutsch, mal im Slang und Calpurnia selbst wird ein Satzbau aufgedrückt, der nichts von einem regionalen Dialekt hat, sondern klingt wie die ersten Versuche, sich in einer Fremdsprache auszudrücken – oder besser gesagt, wie sie oft in schlechter Comedy dargestellt werden. Das hätte man weit besser machen können und ich ärgere mich immer mehr, die deutsche statt die englischsprachige Ausgabe vor mir zu haben …


Gehe hin stelle einen Wächter_Harper LeeAlle Beiträge zum gemeinsamen Lesen von „Gehe hin, stelle einen Wächter“:

♦Ankündigung auf Phantásienreisen: #ZurückNachMaycomb – Miss Booleana und Phantásienreisen lesen „Gehe hin, stelle einen Wächter“

♦ Erster Zwischenbericht bei Miss Booleana: Wir lesen … „Gehe hin, stelle einen Wächter“ #ZurückNachMaycomb (I)

♦ Erster Zwischenbericht auf Phantásienreisen: #ZurückNachMaycomb Teil I Oder: Ain’t feels like home …

♦ Zweiter Zwischenbericht bei Miss Booleana: Wir lesen … „Gehe hin, stelle einen Wächter“ #ZurückNachMaycomb (II)

Immer auf dem neusten Stand bleibt ihr via Twitter mit dem Hashtag #ZurückNachMaycomb.