Endlich einmal wieder ein Jugendbuch, welches sich nicht der gängigen Trendthemen – Vampire, Werwölfe, Feen, Göttinnen der Antike, Dämonen oder Dystopien – bedient! Zwar gibt es auch in Titus Müllers „Der Kuss des Feindes“ die klassische Dreier-Konstellation – bestehend aus einer vorbildlichen Protagonistin, die von ihrem besten Freund geliebt wird, aber ihr Herz einem geheimnisvollen, andersartigen Jungen schenkt – doch wirkt dieses Liebesdilemma in diesem Roman weder gekünstelt noch ausgelutscht. Denn auch wenn die aufkeimende Liebe zwischen der Christin Savina und dem Moslem Arif ausschlaggebend für die Handlung und eigentlicher Mittelpunkt der Geschichte ist, so dreht sich „Der Kuss des Feindes“ doch um viel mehr als um den klassischen Romeo-und-Julia-Konflikt. Es geht um die Geschichte dieser zwei Religionen, um Toleranz und Aufgeschlossenheit. In Titus Müllers erstem Jugendbuch können nicht nur die jüngeren Leser einiges lernen, sondern auch wir Erwachsenen. Die behandelten Themen liefern ausreichend Diskussionsstoff rund um Krieg, Hass, Vorurteile, Frieden, Menschlichkeit, Nächstenliebe, Glauben und Respekt. Als Leser wird man sich während des Lesens nur allzu oft bewusst, dass sich zwischen dem neunten Jahrhundert, in dem die Geschichte spielt, und heute in mancherlei Hinsicht weniger verändert hat, als wir immer glauben oder hoffen: Damals wie heute schüren Vorurteile und der Missbrauch religiöser Schriften Hass; damals wie heute werden Kriege geführt, deren Ursache die Teilhabenden oft selbst nicht genau kennen. Eine fatale Sinnlosigkeit.

Auch Arif und Savina, die in Kappadokien leben, bekommen das Ausmaß religiös geschürten Hasses zu spüren. Der muslimische Arif lebt zwar in Freiheit, doch kann er die Denkweise der Männer seines Volkes nicht nachvollziehen – er träumt von keiner Kriegerkarriere, sondern liebt die Natur, Tiere und kümmert sich als Einziger um seinen behinderten Bruder. Diese Andersartigkeit macht Arif seit Jahren zum Außenseiter und Opfer von Spott und anderen Gemeinheiten.

Savina hingegen ist ein Mädchen, das jeder gut leiden kann, doch sehnt sie sich nach Freiheit, denn zwischen Christen und Muslimen herrscht seit Jahren Krieg. Als Zuflucht dient Savina und den anderen Christen ein geheimnisvolles Höhlensystem in den Bergen. Hier ist im Laufe der Kriegszeit eine ganze unterirdische Stadt mit dem Namen Korama entstanden: Wohnungen, Ställe und sogar eine Kirche finden sich verborgen und gut bewacht im Berg. Nur versteckt unter Gestein und Erde sind die Christen noch sicher; draußen lauern die muslimischen Feinde. Oft sehen die Christen daher monatelang keine Sonne – ein Zustand, unter dem besonders Savina leidet. Um zumindest für einen kurzen Augenblick Freiheit zu verspüren, schleicht sie sich deshalb in manchen Nächten hinaus. Auf einem dieser verbotenen Ausflüge stößt sie mit Arif zusammen, kurze Zeit später schleicht dieser sich in das geheime Tunnelsystem. Welche Folgen diese neu geknüpfte Bekanntschaft haben kann, ist beiden bewusst, doch spüren sie, dass sie einander vertrauen können. Aber schon bald überschlagen sich die Ereignisse und plötzlich befinden sich nicht nur die zwei Verliebten, sondern ganz Korama in Lebensgefahr. Arif muss sich schließlich entscheiden: für seine Familie und sein Volk oder für Savina und Toleranz.

Die unterirdische Stadt Korama mit ihren erschwerten Lebensbedingungen ist dabei sehr authentisch geschildert. Dass solch unterirdische Städte einst wirklich existierten, macht alles noch eindrucksvoller. Am liebsten möchte man noch mehr erfahren über diese geheime und uns fremde Welt, man möchte noch tiefer hinab, die einzelnen Schächte und Tunnel erkunden und den Alltag der Christen kennenlernen. Hierfür hätte Titus Müller sein Jugendbuch auch gerne noch ein- oder zweihundert Seiten länger machen können, denn diese unterirdische Welt steckt voller Faszination.

Savina und Arif sind zwei sehr sympathische Charaktere, die zwar klassische Protagonisten-Eigenschaften inne haben, aber ebenso negative Seiten besitzen und Fehler machen, was sie glaubhaft und menschlich macht. Dies wirkt sich auch auf die Entwicklung der Liebesgeschichte aus. Zwar keimt die Liebe hier, genau wie in anderen Jugendbüchern, sehr schnell auf, aber dafür dennoch authentischer: Bei aller Sympathie und allem Vertrauen, das die jungen Liebenden füreinander aufbringen, kommen beiden doch immer wieder Zweifel – sowohl an sich, als auch an dem jeweils anderen. Beide hinterfragen ihre Taten, ihren Glauben und den des anderen. Sie haben Angst und sind sich der Fehler und Eigenarten des jeweils anderen bewusst. Sie lieben den jeweils anderen nicht, weil er so geheimnisvoll, anders oder perfekt ist, sondern trotz oder sogar wegen dessen Fehler.

Während der Leser über die Dreiecksbeziehung und vor allem über die beiden Religionen sehr viel erfährt, bleibt Savinas Familie leider recht blass. Man erfährt, welchen Beruf ihr Vater ausübt und trifft auf Savinas Schwester, doch sehr greifbar werden sie nicht. Gerne möchte man mehr darüber erfahren, wer diese Menschen sind, wie ihr Verhältnis zu Savina ist und wie sie über den Konflikt zwischen Moslems und Christen denken. Arifs Familie und etliche andere Nebencharaktere sind dagegen sehr gut geschildert. Besonders erwähnt sei hier die starke Weiterentwicklung, die manche Nebenfiguren durchleben. Selbst die vermeintlich Bösen schaffen es, gelegentlich Sympathien zu wecken und aus dem Geschehen zu lernen.

Fazit:

Titus Müller hat mit „Der Kuss des Feindes“ ein sehr empfehlenswertes Jugendbuch geschaffen, das Tiefgang hat und seinem Leser mehr als nur bloße Unterhaltung vermittelt. Es liefert etliche Themen zum Philosophieren, Diskutieren und zur Selbstreflexion. Das macht die Geschichte um den Konflikt zwischen Christen und Moslems nicht nur für die jugendliche Zielgruppe, sondern auch für Erwachsene interessant und lohnenswert.