Seit ein paar Wochen verfolgt das #TeamDickens (@papercuts1 von Buchstapelweise, @_Liedie und ich) das grausame Schicksal des Oliver Twist. Die Hälfte von Olivers Abenteuern liegt bereits hinter uns. Und was dieser Junge in so kurzer Zeit alles durchmachen musste, ist nicht nur schlimm, sondern lässt uns durchaus daran zweifeln, ob sich das Blatt für den armen Kerl wenden wird.
Nachdem Oliver seine erste Anstellung und ein neues Dach über den Kopf fand, musste er beides nach einer Intrige hinter sich lassen und kämpfte sich allein nach London durch. Doch diese große Stadt mit all ihren Möglichkeiten hielt auch neue Gefahren bereit und ohne zu wissen, wie ihm geschieht, steckte Oliver mitten in den Machenschaften einer stark vernetzten und gut organisierten Verbrecherbande. So dauerte es nicht lang, bis Oliver – obgleich er unschuldig war – des Diebstahls bezichtigt und verhaftet wurde.
Überraschenderweise flammte dann ein kurzer Hoffnungsschimmer auf. Erstmals in Olivers Leben nahm sich ein warmherziger Mensch seiner an. Der Waise erfuhr Nächstenliebe, Vertrauen und Fürsorge. Doch unser Team Dickens war bereits bestens vertraut mit dem grausamen Schicksal (und weiß, dass noch mehrere hundert Seiten voller Ereignisse warten) und ahnt, dass Hoffnung und Freude verfrüht wären. Unsere Skepsis blieb berechtigt…
Wieder wird Oliver in Verbrechen hineingezogen, wieder gerät er an Menschen mit den falschen Wertvorstellungen. Was bei Olivers Leben deutlich wird: Immer ist er Opfer der Umstände, Opfer der Taten und schlechten Absichten anderer – und regelmäßig balanciert er dabei gefährlich nah auf dem schmalen Seil, das ihn vom Tod trennt. Bisher kam er jedes Mal (knapp) mit dem Leben davon. Doch es ist spürbar, dass Olivers Kräfte zunehmend nachlassen. Zeit, dass endlich etwas passiert und sich die Dinge doch noch zum Positiven für den Jungen wenden!
Tatsächlich gibt es etwas, das uns einen kleinen Hoffnungsschimmer beschert und andeutet, dass es am Ende so etwas wie Gerechtigkeit in Olivers bislang trostlosem Leben geben wird. Da wäre zum einen das Porträt einer Frau, die große Ähnlichkeit zu Oliver aufweist, und das in einem liebevollen Haushalt hängt. Aber da sind auch Geheimnisse und Berichte einer just verstorbenen Frau aus dem Armenhaus, die die selbstverliebten und geizigen Obrigkeiten in Aufregung versetzen.
Was Dickens besonders gut gelingt, ist die Darstellung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und guten wie schlechten Charaktere. Dickens‘ soziales Engagement ist deutlich spürbar und ich kann mir bildlich vorstellen, wie manche Lesende angesichts der pointierten Darstellung von Scheinheiligkeit und Selbstgefälligkeit der vermeintlich „besseren Leute“ vor Wut schäumend über dem Buch saßen.
Dabei porträtiert Dickens auch gut, was uns Menschen bewegt und unser Handeln bestimmt: Gier, der Wunsch nach Anerkennung und Aufmerksamkeit, Eitelkeiten, das Streben nach mehr (welcher Natur dieses „Mehr“ auch immer sein mag) oder auch Mitleid und Angst.
Sprachlich hält „Oliver Twist“ indes Positives wie Negatives bereit. So konnten wir wieder einmal unseren Wortschatz ausbauen: Es wird indigniert geschaut, vehement remonstriert, sich absentiert statt einfach nur zurückgezogen und so mancher Mensch geht keiner Arbeit, sondern einer Sinekure nach.
Der allgemeinen Begeisterung für die Übersetzung von Gustav Meyrink kann sich unser Team Dickens jedoch nicht anschließen. Besonders zu Beginn des Romans häufen sich ellenlange Schachtelsätze, die gelegentlich mehrfach zu lesen sind, um ihre Kernaussage zu erkennen. Das hätte Meyrink klüger – und vor allem dem Lesefluss zuträglicher – lösen können. Was jedoch das größte Problem darstellt, sind die Dialekte. Meyrink hat britische Dialekte und Slang einfach mal beliebig durch deutsche und österreichische Dialekte ersetzt. In London oder auf einem englischen Dorf Berlinerisch oder Bayrisch zu „hören“, wirkt extrem unpassend. Ich bin grundsätzlich dafür, Dialekte und Slang bei einer Übersetzung zu übertragen (nichts ist schlimmer, als wenn beispielsweise US-Südstaatenslang in Hochdeutsch wiedergegeben wird), allerdings sollte das nicht durch die Verwendung deutscher Dialekte passieren. Slang und Dialekte anderer Lände lassen sich im Deutschen auch anders übertragen als durch die bloße Verwendung „unserer“ sprachlichen Eigenheiten. So wirken die Dialekte in „Oliver Twist“ leider einfach deplatziert – und auch sehr beliebig und unprofessionell, da sie nicht konsequent eingesetzt werden: Dieselben Figuren reden in einem Moment tadelloses Hochdeutsch und sprechen wenige Zeilen weiter in einem starkem Dialekt.
Kritisch sehen wir zudem die Darstellung von Juden. Dickens spricht in seinem Buch selten von Fagin, sondern bezeichnet ihn immer wieder nur als „den Juden“ – natürlich in Verbindung mit diversen Stereotypen: Fagin ist kriminell, hinterlistig, auf seinen eigenen Vorteil bedacht und zieht sich Waisenkinder zu Dieben und Prostituierten heran. Konfrontiert mit dem Vorwurf des Antisemitismus überarbeitete Dickens später seinen Text und milderte die Darstellung von Fagin und anderen jüdischen Figuren ab, dennoch bleibt ein bitterer Beigeschmack.
Charles Dickens: „Oliver Twist“, mit Illustrationen von George Cruikshank, aus dem Englischen übersetzt von Gustav Meyrink, dtv 2016, ISBN: 978-3-423-13613-7
Ach, da haben wir beide gerade unser Update geschrieben. Und Ähnliches resümiert, was Oliver’s Ausgeliefertsein angeht, die Darstellung des Juden Fagin und Dickens‘ Sozialkritik.
„Aber auch in der Schilderung zeitloser Dinge wie Sehnsüchte oder Ängste ist Dickens stark. Stellenweise ist der Roman sogar ein interessanter Spiegel nicht nur der damaligen, sondern auch der heutigen Zeit.“
Ja, unsere kleine Diskussion über Fotografie, realistische Personenabbildung und das Instagram-Filter-Zeitalter. Schon interessant, diese Entwicklung.
Ansonsten finde ich – bis auf die übergreifenden Gemeinsamkeiten wie soziale Klassen und grundsätzliche Kinderängste – nicht ganz so viele Parallelen. Die Sehnsüchte von Oliver sind – im Vergleich zu unseren heutigen – doch sehr einfach: ein zuhause, etwas zu essen und jemand, der gut zu ihm ist. Mit der heutigen Komplexität an persönlichen Wünschen hat das wenig gemein, ist aber natürlich auch seinem ständigen Kampf ums nackte Überleben geschuldet. Darüber kann er gar nicht hinausdenken, und Dickens‘ wichtigstes Anliegen war wohl auch die Darstellung des Armenmilieus.
In letzter Zeit denke ich immer wieder, dass es gerade das ist, was mich an Klassikern so anzieht: Es geht nicht um die myriaden persönlicher Verwirklichungsansprüche und inneren persönlichen Dramen von heute, sondern um ganz essentielle, generelle Bedürfnisse: soziale Gerechtigkeit, Nächstenliebe, ein Dach über dem Kopf und genug zu Essen, Anstand und Ehre. Dass die schon schwierig genug hinzukriegen sind, sieht man ja bei Dickens.
Danke, das waren wieder neue Denkanstöße!
Ute
Hallo Ute,
danke für deinen ausführlichen Kommentar und die Überlegungen.
Sehnsüchte und Ängste sind vermutlich die falschen Worte … Mir ging es da weniger um individuelle Wünsche oder Ängste und auch nicht nur um Oliver, sondern eher die Allgemeinplätze, die Menschen wieder und wieder antreiben und ihr Handeln bestimmen, intrinsische Motive sozusagen. Also z. B. Gier, Missgunst, das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit oder Anerkennung, Akzeptanz/ sich dem eigenen Schicksal fügen vs. über sich hinauswachsen oder nach etwas Besserem für sich oder andere streben. Denn du hast natürlich recht, dass die meisten Menschen heutzutage nicht um Existenzielles bangen müssen und sich viele Wünsche/ Träume um Kommerzielles oder „Größeres“ (Reisen, Karrieren …) drehen. Ich schau mal, wie ich das im Beitrag etwas treffender formulieren könnte.
Deinen neuen Beitrag werde ich auch sofort verlinken und dann erst einmal in Ruhe lesen, welche Gedanken du geteilt hast. :)
Liebe Grüße
Kathrin
Ich habe die Passage jetzt umformuliert, sodass sie mehr dem entspricht, was ich konkret sagen wollte.
Das mit den Parallelen habe ich jetzt auch nicht mehr konkret drin stehen, weil es dazu wohl wirklich näherer Erläuterungen bedarf. Aber ein Beispiel (das mir auch nach dem Lesen deines Beitrages) noch einmal umso deutlicher wurde: Genau wie im Buch konnten wir in den vergangenen Jahren beobachten, dass Menschen, denen es wirtschaftlich nicht sehr gut geht, jene kritisieren, denen es noch schlechter geht. Die Armenhausmütter in „Oliver Twist“ meckern, dass die Armen undankbar seien und viel zu viel bekommen – heute werden ähnliche Vorwürfe gegenüber ALG2-Empfängern und Asylsuchenden geäußert.
Also, das wollte ich wirklich nicht, dass du nur wegen meines Kommentars deinen ganzen Artikel änderst! 😨
Nur weil ich das so verstehe, gilt das doch nicht für andere!
Trotzdem danke für deine Erläuterungen. Das mit den intrinsically Motiven sehe ich auch so. Die galten damals wie heute und werden fleißig thematisiert.
Auch mit dem Herumhacken der armen Schichten auf den noch ärmeren hast du leider sehr Recht. Betrübt mich immer wieder, wie Leute, die auf allen Vieren kriechen, auch noch auf denen rumhacken, die schon am Boden liegen. Macht Armut die Menschen so lieblos? Wenn man Dickens glauben kann, dann zieht sich das allerdings durch alle Schichten, mit wenigen Ausnahmen.
Liebe Ute,
zunächst einmal: Ich habe nicht den ganzen Artikel geändert, sondern nur einen winzigen Absatz. ;) Und zum anderen: Ich war nach dem Schreiben eh nicht 100 % zufrieden mit dem Artikel, von daher war ein bisschen Korrektur in Ordnung und gut.
Tja, ich weiß auch nicht so recht, warum Menschen auf denen herumtrampeln, denen es schlechter geht. Gerade wenn man selbst in einer schwierigen Lage ist oder war, sollte man sich doch in die Probleme der anderen hineinversetzen können. Vielleicht ist es eine Art Angst, dass sie nun noch weniger bekommen bzw. ein Wunschdenken, dass für sie mehr abfiele, wenn es da nicht die anderen Bedürftigen gäbe?!
Liebe Grüße
Kathrin