Ist es wirklich schon sieben(!) Jahre her, seit Wörterkatze Kerstin und ich die ersten beiden Bände von Lucy Maud Montgomerys Anne-Reihe lasen? Ganz losgelassen hat mich Anne Shirley aber nie – dafür begleitet Anne mich schon zu viele Jahres meines Lebens. In diesem Herbst war nun endlich der Zeitpunkt gekommen, den dritten Band – „Anne of the Island“ – zu lesen.

In „Anne of the Island“ begleiten wir Anne während ihrer Zeit am Redmond College, das heißt Anne ist zu Beginn des Buches 18 Jahre, zum Ende 22 Jahre alt – eine Phase, die in der Regel mit einer starken persönlichen Weiterentwicklung verbunden ist. Auch Anne und ihre Freundinnen machen in diesen vier Jahren Erfahrungen, die ihre Vorstellungen von Liebe und Leben, aber auch ihr Selbstbild und ihre Werte in Frage stellen.

Zu Beginn fand ich den dritten Anne-Band jedoch sehr langweilig. Montgomery reiht zahlreiche unspektakuläre Episoden aus Annes College-Alltag aneinander, die weder spannend sind noch für die weitere Handlung sonderlich relevant sind. Zudem fehlt es an dem Charme, der die Geschichten um Anne Shirley ausmacht: Annes grenzenlose Fantasie, ihre Tagträume und ihr Talent, die Schönheit des Alltäglichen zu sehen und zu feiern, geraten zu sehr in den Hintergrund. Erst, als Anne während der Ferien nach Green Gables zurückkehrt, kehrt all das nach und nach zurück. Danach findet Lucy Maud Montgomery eine gute Balance aus Phasen am College und auf Green Gables – und einen Weg, um Annes neuen Lebensabschnitt mit ihrem bisherigen Leben harmonisch zu verbinden.

Eine neue, bedeutende Figur ist Annes Freundin Philippa „Phil“ Gordon. Phil ist zu Beginn sehr anstrengend, insbesondere durch ihre Eitelkeit und ihr Fishing for Compliments. Als Anne und Priscilla Philippa kennenlernen, sagen sie ihr, dass sie sie für das schönste Mädchen am College halten – Philippa reagiert sehr selbstverliebt: „I thought that myself“. Immer wieder fordert Phil von ihren Freundinnen, ihr zu bestätigen, wie gut sie aussehe. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich lange nicht nachvollziehen, was Anne, Priscilla und die anderen Studierenden an Phil sympathisch finden. Doch Philippa ist auch recht modern für die damalige Zeit: Sie sagt ehrlich, was sie denkt, flirtet mit mehreren Männern gleichzeitig und sieht frühe Hochzeiten problematisch, weil eine Ehe Männern zu viel Macht über Frauen gäbe und sie noch Spaß haben wolle. Im weiteren Verlauf der Geschichte gewinnt Philippa nach und nach mehr an Tiefe, erweist sich als aufrichtige Freundin für Anne und erkennt durch ihre große Liebe zu dem Pfarrer Jonas Blake, dass all die Eitelkeiten und der Wohlstand, in die sie hineingeboren wurde, ihr nicht so viel bedeuten wie gedacht. Denn Jonas könnte mit seiner Herkunft und seinem Lebensstil kaum weiter weg von Phils bisherigem Leben sein. Doch er macht sie glücklicher als jeder andere Mensch und lässt Phil in kurzer Zeit reifen und zu ihrem wahren Selbst finden.

Nicht nur Philippa, sondern auch Anne erfährt während ihrer Collegezeit, dass das Leben und die Liebe nicht so sind, wie sie und ihre beste Freundin Diana es sich seit ihrer Kindheit immer erträumt hatten. Der eigentliche Schwerpunkt von „Anne of the Island“ liegt somit weniger im Collegeleben, als vielmehr in dem prägenden Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter.

Anne erlebt Heiratsanträge, die absolut nicht den Szenen entsprechen, die sie sich in ihren Tagträumen immer ausmalte. Sie erkennt, dass die Liebe im echten Leben selten so romantisch und dramatisch abläuft wie in ihren Lieblingsgeschichten, sondern dass wahre Liebe oft stiller und bodenständiger ist – und der scheinbar perfekte, idealisierte Mann nicht der richtige Mann für sie ist.

Anne lernt auf dem College den scheinbar perfekten Mann – mit dem sehr schrägen Namen – Royal „Roy“ Gardner kennen: Roy sieht genauso aus, wie Anne sich ihren Traummann vorstellte, ist charmant, romantisch, schlau, macht ihr viele Geschenke und ist noch dazu aus einer wohlhabenden Familie. Und doch merkt Anne, dass sich ihre Gefühle für ihn nicht nach einer richtigen Verliebtheit anfühlen. Anders als bei Gilbert errötet sie bei Roy nicht, denkt häufiger an Gilbert als an Roy und entscheidet sich beim College-Abschluss für die Blumen von Gilbert anstatt für die Blumen von Roy. Es ist für alle eindeutig, für wen Annes Herz schlägt – nur sie selbst will das jahrelang nicht erkennen und sorgt sich darum, Gilbert als besten Freund zu verlieren.

Ähnlich ernüchternd wie die Liebe fallen auch Annes erste Erfahrungen als Schriftstellerin aus: Sie muss sich anhören, dass ihre Figuren zu makellos und deshalb langweilig seien, ihre Geschichte nichts mit der Lebenswirklichkeit zu tun habe und ihre Dialoge unauthentisch seien. Als Diana Annes Geschichte bei einem Wettbewerb für einen Backpulver-Produzenten einreicht und Anne gewinnt, ist es Anne peinlich und der erste kommerzielle Erfolg widerspricht ihren Prinzipien.

Neben all der Liebe und Selbstfindung erwarten uns in „Anne of the Island“ auch sehr ernste, traurige und unangenehme Momente: Anne und ihre Freundinnen versuchen einen zugelaufenen Kater zu töten, Gilbert Blythe schwebt wegen Typhus in Lebensgefahr und eine Kindheitsfreundin stirbt an Tuberkulose. Letzteres liest sich besonders schmerzhaft, denn gemeinsam mit Anne sehen wir wie die Freundin zunehmend schwächer wird, ihren drohenden Tod lange leugnet und am Ende an dieser Erkenntnis regelrecht zerbricht, weil es ihr offenbart, was sie alles nie erleben wird und dass sie alles und alle, die ihr etwas bedeuten, verlassen muss. Mit solchen Momenten schafft Lucy Maud Montgomery es, die Anne-Reihe aus dem Kinderbuchsegment herauszuholen und adressiert – passend zur erwachsen gewordenen Protagonistin – ein älteres Publikum.

„Jo has given me a splendid rule. He says, when I’m perplexed, just to do what I would wish I had done when I shall be eighty.“

(Lucy Maud Montgomery: „Anne: The Green Gables Complete Collection“, Kindle Edition, Oregon Publishing 2017, ASIN: B06XRM8DHT, Position 10.210)