Als Anne im Alter von elf Jahren zu den Geschwistern Marilla und Matthew Cuthbert auf den Green Gables-Hof kommt, wird sie erstmals in ihrem Leben Teil einer liebenden Familie. Schon bald findet sie im Nachbarsmädchen Diana Barry ihre erste und beste Freundin, eine Seelenverwandte. Anne ist erfüllt von Dankbarkeit und Glück – und hält sich im Äußern dieser Emotionen auch nie zurück. Doch gerade zu Beginn des Buches schwingt in dieser Freude auch immer etwas Schmerz mit. Es sind Verweise auf Annes früheres Leben, in dem sie nur Einsamkeit und Ablehnung erfuhr; Äußerungen, die Anne wie beiläufig zwischen scheinbarem „Geplapper“ einfließen lässt, die dem jüngeren Publikum beim Lesen vielleicht nicht auffallen, die aber uns Erwachsene umso mehr aufhorchen lassen. Anne berührt uns. Und in Verbindung mit ihrer direkten Art, Neugierde, Wissbegierde und Vorstellungskraft fällt es nicht schwer, dieses Mädchen ins Herz zu schließen.
Doch es ist nicht nur Annes Leben, das sich durch ihr neues Zuhause auf Green Gables verändert. Sie prägt die Menschen in ganz Avonlea, besonders aber die Geschwister Cuthbert. Marilla und Matthew haben nie jemanden geheiratet, lebten allein und relativ zurückgezogen auf Green Gables. Marilla ist so zu einer ernsten Frau geworden, die sich nichts aus hübschen Kleidern und anderen Oberflächlichkeiten, Konzerten oder Festen macht. Sie schätzt Gewissenhaftigkeit, Fleiß und alles, was praktisch ist. Ihr Bruder Matthew hingegen ist ein stiller Einzelgänger, der sich vom Dorfleben weitestgehend fernhält und sich in Anwesenheit von Frauen oder Mädchen regelrecht unwohl fühlt. Doch trotz ihres fortgeschrittenen Alters, ihrer jahrzehntelangen Routinen und gefestigten Eigenarten entwickeln sich die Cuthberts durch das Leben mit Anne weiter: Marilla öffnet sich, lernt, Wärme und Liebe zu schenken; Matthew stellt sich sogar vor lauter väterlicher Liebe gegenüber Anne seinen Ängsten.
So wird „Anne of Green Gables“ ein Buch, das zu lesen einfach verdammt viel Spaß macht, das aber auch auf vielen Ebenen berührt und inspiriert: So wie Anne einst Diana zum Erfinden von Geschichten motivierte, verleitet sie uns zum Träumen.
Nur ein Kritikpunkt bleibt und das ist die erzählte Zeit: Mit fünf Jahren deckt der erste Band um Anne Shirley eine große Zeitspanne ab, noch dazu während einer Lebensphase, die grundsätzlich von vielen Veränderungen, Entdeckungen, Träumen und Enttäuschungen geprägt ist. Für Annes erste zwei Jahre auf Green Gables hat sich Lucy Maud Montgomery viel Zeit genommen, lässt uns an jedem noch so kleinen Moment Annes teilhaben. Die folgenden Jahre werden dann aber in einem regelrechten Galopp abgehandelt, sodass man Annes Jugendjahre und ihre charakterliche Weiterentwicklung im Schnelldurchlauf erlebt, ohne diese richtig auf sich wirken lassen zu können. Plötzlich ist der fantasievolle, ständig redende Wirbelwind zu einem Menschen gereift, der sich nicht länger großer Worte bedient und deutlich ruhiger geworden ist. Mir persönlich ging diese Veränderung zu schnell und ich hätte mir mehr Ausgewogenheit im Erzählen von Annes Jugendjahren gewünscht.
Bisher erschienene Blogposts zum Leseprojekt #träumenmitAnne:










Mensch, jetzt bekomme ich richtig Lust die Geschichten von Anne mitzuverfolgen – sei es auch bei Netflix, im Anime oder eben auch in den Büchern. Klingt nach Geschichten, bei denen man mit Anne erwachsen werden kann oder auch gerne mal wieder Kind werden kann.
Anne ist toll! :) Zugegeben: Sowohl die zweite Staffel von „Anne with an E“ als auch der zweite Band („Anne of Avonlea“) haben für mich ein wenig nachgelassen. Sie unterhalten mich immer noch gut, haben auch was für´s Herz, aber fühlen sich eher wie eine bloße Verlängerung des bereits Vertrautem an. „Anne of Green Gables“ und die erste Staffel von „Anne with an E“ sind aber großartig und haben jeweils ihre ganz eigenen Vorzüge.