Mit „Smoke“ lädt Dan Vyleta zu einem moralischen Gedankenexperiment ein: Angesiedelt im England des 19. Jahrhunderts erleben wir eine Welt, in der Lüge, Beleidigungen, böse Gedanken, Hass, Wut, Missgunst und Gewalt in Form von Rauch aus dem Körper strömen. Je nach Art der Boshaftigkeit nimmt dieser Rauch unterschiedliche Farben und Konsistenzen an und wird somit „lesbar“.

Ein spannendes Ausgangsszenario, das viel Potenzial für philosophische Überlegungen und Gesellschaftsporträts bietet. Dass London ein zentraler Handlungsort des Buches ist, machte „Smoke“ für mich zusätzlich attraktiv.

Das erste Drittel des über 600 Seiten dicken Romans, der abwechselnd von einer auktorialen Erzählstimme und verschiedenen Figuren der Geschichte erzählt wird, hatte mich schnell in seinen Bann gezogen und ich freute mich jedes Mal, wenn ich in die Geschichte zurückkehren konnte. Später wurde mir „Smoke“ allerdings zu unglaubwürdig konstruiert und ich bekam den Eindruck, dass Dan Vyleta zu viel gewollt und sich dadurch verzettelt hatte.

„Smoke“ konzentriert sich vor allem auf die beiden Freunde Charlie und Thomas – Schüler eines Elite-Internats in Oxford. Charlie ist dabei der absolute Vorzeigejunge: schlau, gutaussehend, Ruhe ausstrahlend, immer einen kühlen Kopf bewahrend und mit einem (viel zu) guten Herzen. Thomas dagegen ist sehr hitzköpfig, verschlossen, misstrauisch, direkt und eckt überall an.

Während eines Schulausflugs nach London werden sie und ihre Mitschüler dazu gezwungen, eine Hinrichtung anzusehen. Dabei erfahren sie am eigenen Leib, dass der Rauch ansteckend ist und wie gnadenlos, kaltblütig und überwältigend eine aufgehetzte, rauchende Menschenmasse sein kann. Aber die zwei Protagonisten entdecken noch mehr: Thomas beobachtet, wie der Leiche der am Körper klebende Ruß abgekratzt wird, und Charlie entdeckt in der schadenfrohen Masse einen Mann mit sauberer Kleidung – einen Mann, der keinerlei Rauch abgibt und den es theoretisch gar nicht geben dürfte.

Wie Dan Vyleta uns in die Welt des Rauches einführt und vor allem die infektiöse Bosheit beschreibt, der die Masse in London erliegt, fand ich sehr spannend zu verfolgen. Die Szenen rund um die Hinrichtung in London waren für mich genauso wie für Charlie und Thomas ein heftiger Kontrast zu ihrem sauberen, strengen Internatsleben. Bis hierhin hatte „Smoke“ mich also wirklich überzeugt.

Kurz darauf reisen die beiden Freunde zu Thomas‘ Tante aufs Land, um dort die Weihnachtsferien zu verbringen. Ab diesem Punkt wurde der Roman zunehmend anstrengender und erzwungener. Das geht los bei Thomas‘ Tante, die seit Jahren nach der Ursache des Rauchs und einer Lösung forscht und ihren Neffen, den sie seit Ewigkeiten nicht gesehen hat, sofort in diese Geheimnisse einweiht. Kurz darauf ballen sich immer mehr unglaubwürdige Zufälle: Thomas´ Tante stellt sich als jene Person heraus, die Thomas in London beim Entfernen des Rußes beobachtet hat, und Thomas´ Erzfeind aus der Schule, Julius, entpuppt sich als dessen Halbcousin. Außerdem entdecken Charlie und Thomas Daguerreotypien, die Thomas´ Onkel und ihren Lehrer für Rauch und Moral zeigen – jenen Lehrer, der die Schüler mit nach London nahm und bei dem Thomas und Julius nach einem Kampf in der Schule ihre Strafe absitzen müssen. Das sind einfach zu viele und zu extreme Zufälle in zu kurzer Zeit.

Im weiteren Verlauf folgen nicht nur weitere merkwürdige „Zufälle“, sondern das Ganze entwickelt sich zu einer sehr verschachtelten, viel zu verstrickten Erzählung über eine gewaltige Verschwörung. Dan Vyleta kommt dabei ständig mit irgendwelchen Wendungen daher, die überraschen und für Spannung sorgen sollen, aber durch ihre Häufigkeit schnell vorhersehbar werden und langweilen.

Hinzu kommen unnötig brutale Gewalt, die die Geschichte absolut nicht gebraucht hätte, und diverse aufgegriffene und wieder fallen gelassene Fäden, die einiges an Potenzial geboten hätten. Am Ende bleiben somit etliche Fragen offen (z. B.: Wie kam es, dass die Menschheit im 17. Jahrhundert plötzlich anfing, zu „rauchen“?) und der Schluss wirkt sehr unbefriedigend. Tatsächlich endet der Roman mit einem Ereignis, dessen Auswirkungen auf die Menschheit sehr interessant zu verfolgen gewesen wären. Vielleicht wollte sich der Autor damit die Option für einen zweiten Teil offenhalten – so wirkt es jedoch, als hätte er selbst nicht gewusst, wie die Geschichte weitergehen soll oder als hätte er sein Buch aufgrund der Deadline schnell beenden müssen. Der letzte Eindruck wird dadurch verstärkt, dass unsere Protagonisten eine Entscheidung treffen, die im Widerspruch zu ihren bisherigen Verhaltens- und Denkweisen steht und auf die Dan Vyleta kein bisschen hingearbeitet hat.

Sehr gestört haben mich auch das Klischee, dass (Groß-)Städte die reinen Sündenpfuhle sind und es auf dem Land viel sauberer und gesitteter zugeht, sowie die Tatsache, dass der Autor sich in seiner Geschichte nicht an seine eigenen Regeln hält: Wie oft erfahren wir Lesenden davon, wie ansteckend der Rauch ist und dass gerade in der Großstadt alle Menschen moralisch verkommen. Unsere Protagonisten scheinen aber – abgesehen von ihrem ersten Ausflug nach London – immun dagegen zu sein. Ihr Verhalten und ihr Denken werden jedenfalls nicht unmoralischer, als sie sich über viele Tage hinweg in London aufhalten. Natürlich verändern sie sich, aber das ist nicht im Rauch der Stadt begründet, sondern resultiert allein aus ihren Erlebnissen der vorangegangenen Wochen und den schrecklichen Geheimnissen, die sie erfahren.

On top kommt dann auch noch eine Dreiecksbeziehung – ein Topos, der mich schon immer langweilte und mich seit vielen Jahren aufgrund seines gehäuften Auftretens unglaublich nervt. In „Smoke“ lenkt diese Dreiecksgeschichte unnötig vom eigentlichen Kern der Geschichte ab und hat keinerlei Mehrwert für die Themen, mit denen wir uns in „Smoke“ auseinandersetzen (könnten). Hinzu kommt, dass die weibliche Person in der Dreiecksbeziehung mit Thomas und Charlie ausgerechnet Thomas‘ Cousine ist. Zugutehalten muss man Dan Vyleta aber, dass er für diese Dreiecksbeziehung eine Lösung gefunden hat, die uns in der Fiktion selten begegnet – was mich wiederum fast ein wenig mit diesem Aspekt des Romans versöhnt hat.

Fazit:

„Smoke“ bietet bestes Ausgangspotenzial, um sich zu fragen, wie lebenswert ein Leben ohne Fehler und ohne Leidenschaften sein kann und wie wir generell mit Fehlern umgehen. Leider hat sich Dan Vyleta beim Schreiben aber in zu vielen Klischees, unnötiger Brutalität und viel zu konstruierten Handlungsfolgen verloren, die schnell ermüden und zu viele Fragen offenlassen.

Dan Vyleta: „Smoke”, aus dem Englischen übersetzt von Katrin Segerer, carl’s books 2017, ISBN: 978-3-570-58568-9