Drei Wochen in und um Paris liegen hinter Antonie von Die fabelhafte Welt der Bücher (@lesewahn), Devi von Kulturrausch und mehr (@spamdora), Ute von Buchstapelweise (@papercuts1) und mir. Meinem Kennenlernen mit Alexandre Dumas dem Jüngeren stand ich zugegebenermaßen recht skeptisch gegenüber: Große Dramen und Geschichten über Liebe auf den ersten Blick, die nur extreme Gefühle kennt, treffen absolut nicht meinen Geschmack. Die Leseprobe hinterließ zudem – in allen Übersetzungen! – einen recht zähen, trockenen Eindruck. Da war es logischerweise auch nicht förderlich, dass der Übersetzer Otto Flake in einer (von mir vor Lektürebeginne gelesener) Nachbemerkung schrieb: „Was den Stil Dumas‘ betrifft, so ist zu sagen, daß es besseren in Frankreich gibt, auch sorgfältigeren.“ (Kindle E-Book-Position 3467)

Aber: Dumas Junior hat es geschafft, mich zu überzeugen. Der Stil wurde nach den ersten Seiten etwas lebendiger, flüssiger und der eher berichtende Charakter der Erzählung hat die emotionsgeladene Geschichte um die fast schon obszessive Liebe ausbalanciert. Zwar wird „Die Kameliendame“ nie zu meinen favorisierten Klassikern gehören, aber sie hat mich positiv überrascht und mir unterhalsame, kurzweilige Lesestunden beschert.

Alexandre Dumas der Jüngere nutzt hierbei drei geschickte Kniffe: 1) Beruht „Die Kameliendame“ auf wahren Begebenheiten, nämlich auf dem (kurzen) Leben der Kurtisane Marie Duplessis; 2) bedient sich Dumas Junior gleich zwei Erzähler und dem Matrjoschka-Priznzip der Geschichte in der Geschichte (in der Geschichte) und 3) wissen wir von Anfang an, wie die Geschichte – und eine Geschichte ist immer dann gut, wenn Spannung nicht durch die Unwissenheit über den Ausgang erzeugt wird, sondern durch die Neugier auf das, was diesem Ausgang vorausging. Das lässt gut über den mitunter mittelmäßigen Schreibstil und die hitzköpfigen Figuren hinwegsehen, die sich viel Leid erspart hätten, wenn sie einfach häufiger und ehrlicher miteinander kommuniziert hätten. Allerdings ist der namenlose Erzähler, der uns mit dem zweiten Erzähler und Protagonisten Armand bekannt macht und als eine Art Moralinstanz über das Verhältnis der gehobenen Pariser Gesellschaft zu Kurtisanen fungiert, absolut überflüssig. Tatsächlich war seine Rolle im Roman so unbedeutend, dass sein plötzliches Auftreten nach längerer Abwesenheit jedes Mal wie ein deplatziertes Wachrütteln wirkte und mich wiederholt denken ließ: „Ach, stimmt, er ist ja derjenige, dem Armand die Geschichte eigentlich erzählt“. Und bei den Geschichten-Matrjoschkas hätte dem Roman eine strenge Überarbeitung gut getan – teilweise wird so sehr hin- und hergesprungen, dass es mir gelegentlich schwerfiel, Ereignisse auf Anhieb chronologisch einzuordnen.

Mit diesem Wissen um die reale Vorgeschichte und den erzählerischen Verschachtelungen tauchen wir immer tiefer in die Welt der Kurtisane Marguerite Gautier – anfangs als unbeteiligte Außenstehende ohne Parallelen zu diese Welt, im weiteren Verlauf mit immer intimeren Blick in das Leben von Kurtisanen und die Bigotterie der vermeintlich „besseren“ Gesellschaftsschichten – und immer öfter kopfschüttelnd über diese oberflächlichen, selbstgefälligen Menschen mit zu viel Geld und Ansehen, aber auch kopfschüttelnd über die Beziehung zwischen dem wohlhabenden Armand und Marguerite, die nur Extreme kennt: Hass oder Liebe, Glück oder Schmerz, aufopferungsvolle Hingabe oder verbitterte Kälte, Reichtum oder Armut, Leben oder Tod.

Armand verliebt sich Hals über Kopf in Marguerite im ersten Moment, in dem er sie sieht. Dass sie eine Kurtisane – und noch dazu die begehrteste – ist, stört ihn nicht. Obwohl sie ihm beim ersten Kennenlernen zum Gespött macht, kämpft er darum, sie für sich zu gewinnen. Das gelingt ihm schließlich in einem Moment, als Marguerite wieder einmal sehr unter ihrer Tuberkulose leidet und niemand außer Armand Anteil daran nimmt. Armand ist der erste Mensch, der ihr gegenüber aufrichtiges Mitgefühl und Menschlichkeit zeigt, ohne daraus finanziellen Profit oder lediglich ein bisschen Spaß beziehen zu wollen. Marguerite gibt der Beziehung zur Armand eine Chance. Doch ihr Leben als Kurtisane erweist sich für beide immer wieder als Herausforderung: Armand wird eifersüchtig und misstrauisch, immer wieder müssen sie Treffen geheim halten, Marguerite zweifelt wieder und wieder an der Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft, es entwickelt sich eine On-Off-Beziehung, die für beide stark kontrahierende Emotionen birgt. Marguerites Lebensstil aus täglichen Bällen, Restaurant- und Theaterbesuchen, luxuriöser Kleidung, falschen Freundschaften, eskalierenden Gelagen und Schuldenbergen wird zudem selbst dann zur existenziellen Frage, als Armand und Marguerite sich zu einem ruhigen, bescheidenen Leben auf dem Land zurückgezogen haben – umso mehr, da Armand selbst nicht ein einziges Mal auf den Gedanken kommt, sich einen Job zu suchen. Und schließlich stellt Armands Liebe zu Marguerite die Beziehung zu seiner Familie auf die Probe und gefährdet das Liebesglück seiner Schwester. Statt aber all diesen Probleme mit ein wenig Vernunft und Kommunikation zu begegnen, steigert sich sowohl Armand als auch Marguerite in immer absurdere Gedanken hinein, treffen unüberlegte Entscheidungen und machen ihre Beziehung zu einer self-fulfilling prophecy.

Und genau in all dem besteht also die Dramatik und Tragik des Romans – zusammen mit dem Wissen, dass Marguerite aufgrund ihrer Krankheit nicht mehr lange leben wird.

Dumas selbst sah in seinem Roman eine Kritik an der Bigotterie der gehobeneren Schichten und bemüht sich stark, sich selbst als eine Art aufrichtigen Ally mit den Kurtisanen zu porträtieren. Dabei legt er selbst – in seinem Roman wie in seinem eigenen Leben – eine Doppelmoral an den Tag: Verheiratete Männer dürfen sich beliebig mit anderen Frauen vergnügen, Ehefrauen aber müssen stets bedingungslose Treue zeigen; er kritisiert, wie mit Kurtisanen umgegangen wird und zeigt Verständis für ihre Situation, beschreibt ihr Leben und ihren Beruf aber immer mit negativ behafteten Worten wie „Laster“ und lässt wiederholt durchscheinen, dass das Leben als Kurtisane etwas ist, dass eine Frau überwinden muss, etwas, wovon sie erlöst werden muss. Das macht es schwer, seinen vermeintlichen Einsatz für die Rechte von Kurtisanen ernst zu nehmen.

Hinzu kommen Sätze Armands, die mich entsetzt haben, die unreflektiert im Roman stehen und bei denen ich mich fragte, ob Dumas sich bewusst war, in welches Licht diese Sätze seinen Protagonisten rücken, für den die Lesenden doch eigentlich Mitgefühl aufbringen sollen.

Fazit:

„Die Kameliendame“ ist ein hervorragend kurzweiliger und unterhaltender Roman. Allerdings gibt es viele Punkte, die sprachlos machen und die es wert sind, diskutiert zu werden. Auch rhetorisch ist der Roman kein Meisterwerk und hätte durchaus etwas Feinschliff verdient. In jedem Fall bin ich nun neugierig darauf, zum Vergleich die Romane von Dumas‘ gleichnamigen Vater zu lesen, der dem jüngeren Dumas immerhin eine Erwähnung in „Die Kameliendame“ wert war – zusammen mit anderen Literaturempfehlungen.

Alexandre Dumas der Jüngere: „Die Kameliendame“, aus dem Französischen übersetzt von Otto Flake, Fischer 2011, ISBN: 978-3-10-401880-5 / ASIN: B0060QKH4C


Weitere Beiträge zur Leserunde:

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