Der erste Band um Gentleman-Gauner Arsène Lupin nahm Steffi und mich auf weniger als 300 Seiten mit auf mehrere Diebstähle, Ausbrüche und Katz-und-Maus-Spiele. Wir verfolgten, wie die Anwesenheit Lupins auf einem Kreuzfahrtschiff für Tratsch und Besorgnis sorgte, befanden uns mit ihm in Haft und brachen gemeinsam aus dem Gefängnis aus. Wir beobachteten, wie der Dieb die Polizei regelmäßig an der Nase herumführte, sie sogar zu unfreiwilligen Komplizen machte, und erlebten, wie leicht er wieder und wieder seine Identität und sein Äußeres veränderte. Aber wir lernten auch, dass selbst ein Gesetzesbrecher wie Lupin moralische Grenzen und einen gewissen Gerechtigkeitssinn hat.

Arsène Lupin hat Charme, Ehrgefühl, Witz, ist verdammt clever und allen immer einen Schritt voraus. Unter den Kriminellen ist er quasi das, was Sherlock Holmes unter den Ermittler*innen ist. Da erscheint es nur passend, dass Maurice Leblanc diese beiden genialen (Anti-)Helden aufeinander treffen lässt. Beim Schreiben seiner Lupin-Geschichten änderte Leblanc zur Vermeidung von Urheberrechtsverstößen den Namen des berühmten Detektivs übrigens in Herlock Sholmes um (kein Witz!) – in der Neuübersetzung von Martin Barkawitz darf Holmes aber unter seinem korrekten Namen auftreten.

Ähnlich wie bei Arthur Conan Doyles Holmes-Geschichten ist es aber auch bei Leblancs Lupin-Romanen so, dass diese vor allem von ihrem faszinierenden Protagonisten profitieren und weniger durch ihre Dramaturgie, Nebenfiguren oder Stil überzeugen. Bei Doyles Sherlock-Holmes-Büchern habe ich mich immer ziemlich gelangweilt, weil sich die Handlung dröge dahinschleppte, und mich zugleich darüber geärgert, dass der Meisterdetektiv plötzlich aus dem Nichts heraus die komplexe Auflösung servierte und ich als Lesende bei all seinen Gedankengängen die ganze Zeit außen vor blieb. Bei den Geschichten um Arsène Lupin ist es ebenfalls so, dass wir die Auflösung häufig einfach aufgetischt bekommen. Da man aber schnell ein Gespür dafür bekommt, wie der Meisterdieb tickt und wie Leblanc seine Geschichten aufbaut, kann man sich das ein oder andere häufig vor der Auflösung zusammenreimen. Mir persönlich ist diese Herangehensweise lieber als jene von Doyle.

Auch die generelle Reduktion aufs Wesentliche hat mir bei „Arsène Lupin – Gentleman-Gauner“ gefallen. Maurice Leblanc hält sich nicht sonderlich mit Beschreibungen auf, verzichtet auf Nebenhandlungen und lässt nur ein Minimum an Figuren auftreten. Für Steffi war das deutlich zu wenig und sie hatte sich mehr Atmosphäre und Komplexität erhofft. Zwar mag ich es normalerweise auch komplexer, in diesem Fall habe ich es aber als willkommene kurzweilige Unterhaltung genießen können. Einerseits war ich immer wieder aufs Neue viel zu begeistert von Arsène Lupin und habe daher nichts vermisst, andererseits erwischte mich die Lektüre in einer beruflich stressigen und fordernden Phase, in der mein Kopf nicht frei für allzu Herausforderndes war. So gesehen kam der erste Band um den Gentleman-Gauner für mich zum perfekten Zeitpunkt. Abgesehen davon kann ich mit den meisten Krimis nichts anfangen, weil mich das Whodunit wenig interessiert. Wer dagegen Spaß an der Ermittlungsarbeit hat, wird das in den Lupin-Geschichten wohl vermissen.

Dennoch komme auch ich nicht ganz ohne Kritik aus. Mit Ausnahme von Lupin selbst sind alle Figuren sehr blass und eindimensional gezeichnet. Das ist vielleicht noch vertretbar angesichts dessen, dass das Gros der Figuren nur einmalige, kurze Auftritte hat. Aber bei Lupins Gegenspieler, Inspektor Ganimard, ist diese oberflächliche Charakterisierung einfach eine große Schwachstelle. Ein derart blasser Inspektor kann einem Genie wie Lupin nicht als ebenbürtiger Kontrahent gegenübergestellt werden. Darüber hinaus mangelt es Leblancs Darstellung von Ganimard an Kontinuität und Stringenz. So präsentiert uns der Autor anfänglich einen Inspektor, der Lupin dicht auf den Spuren ist und weiß, wie der Meisterdieb agiert – in späteren Kapiteln wird Ganimard aber mehrfach zu einer Art Spottfigur, die sich wieder und wieder von dem Gentleman-Gauner austricksen lässt.

Darüber hinaus misslingt es Leblanc hin und wieder, Schlüsselereignisse glaubhaft zu gestalten. So irritiert es beispielsweise, wie leicht Lupin selbst zu einem Opfer wird. Dass ein Meisterdieb wie Lupin, der für seine Logik und Genialität berühmt ist, beispielsweise in einem simplen Setting ausgeraubt wird, erschien mir derart unglaubwürdig, dass ich fälschlicherweise bis zum Schluss vermutete, er könnte den Überfall selbst inszeniert haben. Und umso unwahrscheinlicher wirkte es später, dass ausgerechnet Sherlock Holmes allzu leicht auf Arsène Lupins Tricks hereinfällt.

Vereinzelt lässt sich Lupins Naivität darauf zurückführen, dass es sich um Rückblicke auf seine ersten Jahre als Gauner handelt. Auch begrüße ich es grundsätzlich, dass der Meisterdieb nicht unfehlbar ist. Leider schafft Leblanc es aber nicht, diese Schwachstellen authentisch einzuarbeiten. Bei den Rückblicken liegt ein weiteres Problem darin, dass diese willkürlich eingestreut werden und es keine zeitliche Einordnung gibt. Der Schwerpunkt des ersten Bandes dreht sich um die Diebstähle auf dem Kreuzfahrtschiff und die darauf folgenden Ereignisse wie Lupins Verhaftung, seine Zeit im Gefängnis und sein Ausbruch aus selbigem. Zwischendurch streut Maurice Leblanc immer wieder Kapitel ein, die sich Fällen aus früheren Jahren widmen. Diese stehen aber in keiner Verbindung zu den „aktuellen“ Geschehnissen und oftmals wird erst im späteren Verlauf nebenbei erwähnt, dass sich das gerade Geschilderte vor Jahren abspielte. Wie viel Jahre früher, erfahren wir allerdings nicht und können uns daher auch kein konkreteres Bild über die Laufbahn des Meisterdiebs machen.

Trotz dieser Schwachstellen hat mir der erste Band um Arsène Lupin aber wirklich gut gefallen. Es ist – zugegeben – keine allzu anspruchsvolle Literatur, aber eine perfekte Lektüre für Reisen, für den Feierabend nach einem erschöpfenden Tag oder einfach für jene Momente, in denen man vordergründig nach Unterhaltung sucht. Nicht zuletzt übt der Antiheld einen ganz besonderen Reiz aus und hat unsere Aufmerksamkeit wahrlich verdient. Es ist ein Faszinosum: Wir treffen auf einen Menschen, der sich wiederholt Recht und Gesetz widersetzt, trotzdem einer Art Gerechtigkeit und Wertesystem folgt und zugleich so smart und charmant ist, dass es schwerfällt, ihn unsympathisch zu finden. Lupin rebelliert auf seine Art gegen vorherrschende Strukturen, verletzt jedoch nie Menschen oder immaterielle Werte – das Stehlen ist quasi sein Brotjob, nicht mehr und nicht weniger. Und: Häufig bestiehlt er jene, die auf Kosten anderer an ihren Reichtum gelangten. Das macht Lupin schon fast zu einer Art Robin Hood Frankreichs. Aber eben nur fast.

Tatsächlich hatte Arsène Lupin wohl auch ein reales Vorbild. Alexandre Marius Jacob beging Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts rund 150 Diebstähle, die damals durch ihren Einfallsreichtum, aber auch durch Jacobs Humor und Großzügigkeit für Furore sorgten. Zwischen diesen Fällen und denen Lupins bestehen etliche Parallelen. Maurice Leblanc bestritt stets, dass Lupin durch Jacob inspiriert wurde. Dass Leblanc bei Jacobs Prozess anwesend war und seine ersten Geschichten über den Gentleman-Gauner unmittelbar nach diesem Prozess entstanden, spricht jedoch dafür, dass er von diesem außergewöhnlichen Fall beeinflusst wurde.

Fazit:

Maurice Leblancs erster Band um den Gentleman-Gauner Arsène Lupin hat zwar so manche Schwachstelle, dem Charme und der Faszination dieses Antihelden kann man sich aber nur schwer entziehen. Ich bleib auf jeden Fall dran und bin gespannt, wie sich dieser Klassiker der französischen Literatur im weiteren Verlauf der Reihe entwickelt.

Maurice Leblanc: „Arsène Lupin – Gentleman-Gauner”, aus dem Englischen übersetzt von Martin Barkawitz, Belle Époque Verlag 2021, ISBN: 978-3-96357-158-9


Weitere Beiträge zur Leserunde:

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