Hui, das ging auf einmal schnell. Nachdem ich die ersten beiden Bücher von „A Tale of Two Cities“ sehr mittelmäßig bzw. durchwachsen fand, hat Charles Dickens im letzten Teil sein ganzes Können gebündelt und Ute, Veronica und mich emotional ganz schön herausgefordert. Wir haben unter Trennungsschmerz gelitten, uns über Leichtsinn aufgeregt, waren schockiert über skrupellose Mordlust, bangten um Leben und Tod und mussten einen Akt größtmöglicher Selbstlosigkeit verarbeiten.

Nachdem Charles Darnay, Lucy und Dr. Manette in London ein sorgloses Leben führen, holt Charles seine französische Herkunft und Vergangenheit ein. Ein Brief veranlasst ihn dazu, nach Paris zu reisen – wissend, dass Frankreich nach der Revolution für ihn kein sicherer Boden ist, aber doch zu naiv, um die wahre Gefahr zu unterschätzen. Und wie so oft in der Geschichte fällt Charles diese Entscheidung allein, ohne auch nur einen Moment ernsthaft an seine Familie zu denken, und bricht Hals über Kopf, ohne Abschied zu nehmen, auf.

Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Kaum auf französischem Boden wird Charles als Angehöriger des französischen Adels verhaftet. Ohne Prozess. 1 Jahr und 3 Monate wird er das Gefängnis nicht verlassen und niemanden sehen, der ihm lieb und teuer ist. Lucy und ihr Vater brechen zwar so schnell wie möglich nach Paris auf, können dort aber nichts weiter für Charles tun. Die Hoffnung ruht auf Dr. Manette, der als ehemaliger Häftling der Bastille hohes Ansehen unter der Bevölkerung genießt. Während er und Mr. Lorry nach Wegen suchen, Charles aus dem Gefängnis zu befreien und vor der Guillotine zu bewahren, verbringt Lucy jeden Tag mehrere Stunden vor dem Gefängnis, an einer Stelle, an der Charles sie mit etwas Glück in seltenen Fällen sehen kann.

Wie Dickens Lucys Verzweiflung und einzigen Lichtblick schildert, ist Mitleid erweckend, ohne jedoch ins Melodramatische abzudriften, und zeigt, welche Kraft und Beharrlichkeit ein Mensch aus seiner Liebe beziehen kann. Es ist eine von nur zwei Stellen im Buch, in denen Dickens seiner weibliche Protagonisten wirkliche Stärke verleiht und sie nicht nur als ständig in Ohnmacht fallendes, gefühlsduseliges, hübsches Püppchen darstellt.

Die zweite Szene, in der Lucy aus Verletzlichkeit und Schmerz Stärke bezieht, ist der Moment der Konfrontation mit Madame Defarge, die unter den Pariser Republikaner*innen hohes Ansehen genießt und eine der treibenden Kräfte in der Zeit des französischen Terrors ist. Verzweifelt fleht Lucy Madame Defarge an, Charles zu helfen. Sie legt sein Leben in ihre Hände und offenbart ihre eigene Machtlosigkeit. Ein emotionaler, spannungsgeladener Moment, der die veränderten Machtverhältnisse zeigt: Stand Madame Defarge einst weit unter privilegierten Menschen wie Lucy und Charles, ist nun sie diejenige, die über das Schicksal anderer entscheidet und deren Meinung und Stand den größeren Einfluss hat.

Doch Madame Defarge ist radikal und skrupellos. Es geht ihr längst nicht mehr um Gerechtigkeit, sondern nur um Rache an einem Teil der Gesellschaft, der sie und ihresgleichen Jahrhundertelang unterdrückt hat. Damit ist sie keine Ausnahme während des Terrors: „La Guillotine“ wird verehrt wie eine Gottheit; ein Tag ist nur dann gut, wenn ein Minimum an Hinrichtungen stattfindet, an denen sich ergötzt wird; und es wird erwartet, dass jede*r bereit, sich und die eigene Familie ohne zu zögern zu opfern. Alles im vermeintlichen Sinne eines neuen, gerechten Frankreichs. Liberté, Egalité, Fraternité ou la mort!

Doch auch wenn es hier gerade anders wirkt: Dickens macht in seinem Roman immer wieder deutlich, dass es zur Zeit vor, während und nach der Französischen Revolution kein Gut oder Böse gab. Sowohl die Aristokratie als auch das gebeutelte Volk haben Blut vergossen, Unrecht walten lassen und Unschuldige ermordet. Egal, von welcher Seite sie ausging: Gewalt und Ungerechtigkeit werden von Dickens abgestraft, unabhängig davon, wer sie ausübte.

Vor diesem Setting entwickelt sich „A Tale of Two Cities“ zum Pageturner und macht so ziemlich alles wett, woran es in den ersten zwei Dritteln gemangelt hat. Dickens Erzählstil und Dramaturgie werden einheitlicher und harmonischer; die holzschnittartigen Figuren erhalten Tiefe und zeigen zum Teil neue, unerwartete Seiten; die nüchterne Distanziertheit zwischen Lesenden, Figuren und Ereignissen weicht einer runden Mischung extremer Emotionen. Die größte Stärke des Romans liegt dabei in der Figur Sydney Carton. Eine Figur, die Dickens uns lange als ziemlich unsympathisch und fehlerreich verkaufen möchte, ohne sich dabei die Mühe zu machen, uns Cartons Makel und Verfehlungen wirklich zu zeigen. Stattdessen sollen wir Lesenden Carton lange als Nebenfigur unterschätzen – damit wir am Ende von dessen Tat umso überraschter sind. Da die Einleitung von Richard Maxwell in der Penguin Clothbound Edition leider stark gespoilert hat, wusste ich, was Sydney Carton tun wird und worauf es im letzten Drittel des Buches hinauslaufen wird. Dass ich im letzten Drittel trotzdem gebannt davor saß und diesen Teil als den stärksten und spannendsten des ganzen Romans empfand, zeigt, zu welcher Höchstform Dickens hier aufgelaufen ist. Trotzdem habe ich mich die ganze Zeit über den Spoiler geärgert, weil ich so nur schwach ahnen konnte, welchen starken Effekt diese „Enthüllung“ wohl auf Lesende haben muss, die wirklich unbeeinflusst an die Geschichte herangehen können.

Und schließlich lässt Charles Dickens uns mit einem herzzerreißenden, aber perfekten Ende zurück, einem Ende, das mich fast gänzlich mit den eher schwachen ersten beiden Teilen des Romans versöhnt hat – und nach dem ich mir irgendwie einen kleinen Spin-Off über Sydney Carton wünsche.

Fazit:

Charles Dickens hat mich mit „A Tale of Two Cities“ wirklich herausgefordert. Nicht, weil es sprachlich oder inhaltlich so anspruchsvoll wäre, sondern weil ich nur wenige Romane gelesen habe, die in ihrer Qualität und Herangehensweise so schwanken. Die ersten zwei Teile fühlten sich an, als Dickens sie für sprachliche und dramaturgische Experimente genutzt, was für so manche Irritation oder auch mal Müdigkeit sorgte. Hinzu kamen Figuren, die in ihrer Eindimensionalität und Klischeehaftigkeit für reichlich Augenrollen sorgten. Doch wer durchhält, wird mit einem der vermutlich besten Enden der Literatur belohnt.

Alle Eindrücke von Ute, Veronica und mir zu „A Tale of Two Cities“ findet ihr auf Twitter unter


Charles Dickens: „A Tale of Two Cities“, Penguin Classics 2011, ISBN: 978-0-141-19690-9

 

Weitere Beiträge rund um das gemeinsame Lesen von „A Tale of Two Cities“: