Es ist nun rund zehn Jahre her, dass ich zum ersten Mal den Begriff „Graphic Novel“ hörte. Inzwischen ist der Begriff eine Art Modewort geworden, das dank einer schwammigen Definition und der daraus resultierenden willkürlichen Verwendung kritisch zu betrachten ist. Den heutigen Beitrag wollte ich daher schon seit Jahren schreiben – auch wenn ich nicht die erste bin, die Kritik an der Bezeichnung übt. Bereits 2014 resümierte Lars von Törne im Tagesspiegel:

„Schaut man sich die konkrete Verwendung des Begriffs ‚Graphic Novel‘ im deutschen Sprachraum an, fällt auf, dass er in den vergangenen fünf Jahren zunehmend zur Unterscheidung zwischen vermeintlicher Hoch- und Trivialliteratur im Comic-Bereich eingesetzt worden ist, zur Trennung von Kinder- und Erwachsenenliteratur oder zur Trennung anspruchsvoll/anspruchslos.“

2016 erschien dann auf npr ein cleverer und äußerst lesenswerter Artikel von Glen Weldon darüber, warum der Begriff „Graphic Novel“ überflüssig ist – mit dem Appell: „Just call them comics.“ 2018 widmete sich schließlich Manga- und Comicleserin Christin auf Life4Books der Frage, was Graphic Novels eigentlich sind und zeigte die Problematik einer solchen Etikettierung auf. Ich hatte daher gehofft, dass es keinen weiteren Text über dieses Thema bedürfe. Aber die inflationäre und zunehmend beliebige Bezeichnung von Comics und Mangas als Graphic Novel beweist das Gegenteil: Da werden Bilder- und Vorlesebücher von Blogger*innen als Graphic Novels betitelt und Verlage nutzen den Begriff als beliebtes Marketingtool, um ihre Comics und Mangas bei Leser*innen und Journalist*innen zu etablieren, die für dieses Format ansonsten nur abschätzige Blicke übrig hätten. Ganz vorne mit dabei ist u.a. der Carlsen Verlag, der ein hervorragendes Repertoire an Comics und Mangas anbietet, aber leider dazu neigt, Mangas zu „verwestlichen“: Die Titel von Mangaka Jiro Taniguchi werden – anders als bspw. beim Verlag Schreiber & Leser – stets mit dem Label „Graphic Novel“ etikettiert und fast immer in westlicher Leserichtung gedruckt. Als Carlsen in seinem aktuellen Comic Magazin (Ausgabe 06/19 – 03/20) diverse Mangas unter der Überschrift „Graphic Novels aus Japan“ anpries, sorgte das (nicht nur) bei mir für zusätzlichen Ärger über die Begrifflichkeit.

Darum heute einmal ein Überblick darüber, weshalb der Begriff „Graphic Novel“ auf gleich mehreren Ebenen problematisch ist.

1. Wofür steht der Begriff „Graphic Novel“ überhaupt?

Schlicht und einfach übersetzt bedeutet „Graphic Novel“ nichts anderes als „grafischer Roman“. Das kann so ziemlich alles bedeuten. Oder auch nichts. Tatsächlich existiert keine einheitliche Definition des Begriffs.

Laut Merriam-Webster und der Encyclopædia Britannica sind Graphic Novels Geschichten im Comicformat, die als Buch veröffentlicht werden. Das sagt zunächst einmal nichts über den Inhalt, sondern ausschließlich über das Publikationsformat aus. Sprich: Jeder Comic, der nicht als Heft oder in einer Zeitung bzw. einem Magazin erscheint, kann als Graphic Novel betrachtet werden.

Im deutschsprachigen Raum konzentriert sich das Verständnis darüber, was eine Graphic Novel ist, verstärkt auf Inhalt und Struktur der jeweiligen Geschichte. Im Duden finden wir bspw. folgende Bedeutung:

„Comic im Buchformat, der eine abgeschlossene, thematisch komplexe Geschichte erzählt; Comicroman“

Das ist nicht sehr konkret, deutet aber schon mal auf eine andere Erzählweise hin als bei seriellen Comics. Ebenso vage, aber mit deutlich mehr Worten werden Graphic Novels auf dem von verschiedenen Verlagen betriebenen Blog graphic-novel.info beschrieben:

„Graphic Novels gehören der literarischen Gattung der Comics an […]. Graphic Novels sind, vergleichbar mit Romanen, längere, komplexere Geschichten von mehrteiligem Aufbau. Sie sind in sich abgeschlossen. Das unterscheidet sie von beispielsweise Comicserien, die von vornherein ganz anders, eben auf die serielle Erscheinungsweise, angelegt sind. Graphic Novels können allerdings, genau wie Romane, mehrere Bände umfassen.“

Wir können also festhalten, dass Graphic Novels:

  • Comics sind,
  • die nicht als lange Serie konzipiert sind, sondern eine von Anfang an begrenzte Geschichte mit klassischem Spannungsbogen erzählen
  • und im Buchformat erscheinen.

Diese allgemeinen Definitionen sagen aber zunächst einmal nichts über Qualität oder literarische Genres aus. Dennoch werden Graphic Novels im öffentlichen Diskurs, vor allem im Feuilleton, gerne als „anspruchsvolle“ Comics für Erwachsene angesehen. Nun ist „anspruchsvoll“ eine Eigenschaft, die für Leser*innen unterschiedlich aussehen kann. Was die einen fordert, ist für andere leichte Kost. Und bedeutet „anspruchsvoll“ unter der Berücksichtigung der obigen Definitionen, dass Comichefte oder auch Cartoons in Tageszeitungen per se anspruchslos sind?

So gern und häufig der Begriff „Graphic Novel“ verwendet wird, so unklar ist er auch. Das oberflächliche, nur grob umrissene Verständnis dessen, was Graphic Novels kennzeichnet, führt folglich direkt zum nächsten Problem, nämlich dem beliebigen Aufdrücken eines Labels auf alle möglichen Publikationen, in denen eine Geschichte vorrangig durch Bilder erzählt wird.

2. Was wird alles als Graphic Novel bezeichnet – ist aber keine?

In den vergangenen Jahren ist mir der Begriff im Zusammenhang mit den unterschiedlichsten Büchern, Comics, Mangas begegnet, obwohl diese nicht einmal die ohnehin schon dürftigen Kriterien einer Graphic Novel erfüllten.

Nicht jeder Comic oder Manga im Buchformat ist auch eine Graphic Novel.

Fiktion vs. Non-Fiction

Der Begriff „Novel“, also „Roman“, weist schon darauf hin: Die Story ist Fiktion. Eine im Comicformat erzählte Dokumentation (z.B. „Ein Frühling in Tschernobyl“) oder eine ausschließlich auf Fakten beruhende Biografie ist demnach keine Fiktion und somit kein grafischer Roman. Gleiches gilt für Comics, die wissenschaftliche oder sonstige Sachthemen erläutern. Ein reguläres Sach- oder Fachbuch würde schließlich auch nie jemand als Roman verkaufen.

Roman vs. Kurzgeschichten und Serien

Bleiben wir beim Begriff „Roman“. Ein Roman ist keine Sammlung von Kurzgeschichten. Trotzdem werden Kurzgeschichten im Comic-/ Mangaformat nur zu gerne als Graphic Novel verkauft, so zum Beispiel Jiro Taniguchis Kurzgeschichtenbände „Von der Natur des Menschen“ und „Unruhige Geister und stille Gefährten“.

Schon häufiger gesehen habe ich auch, dass Leser*innen Sammelbände von ursprünglich in Heften veröffentlichen Comics oder in Zeitungen erschienenen Cartoons als Graphic Novels betitelten. Da wurden dann plötzlich die Superhelden-Comics oder die Strips von Flix zu genau dem, wovon sich Graphic Novels per Definition eigentlich abgrenzen. Die Mangas von Naoki Urasawa, die Carlsen in seinem Comic-Magazin als „Graphic Novels aus Japan“ anpries, fallen ebenfalls in diese Kategorie: Wie nahezu alle Mangas erschien auch die Serie „Monster“ nicht zuerst in Buchform, sondern die einzelnen Kapitel wurden über Jahre hinweg in einem Manga-Magazin (hier: „Big Comic Original“) abgedruckt.

Ein Bilderbuch oder illustriertes Buch ist kein Comic ist keine Graphic Novel.

Als wäre der Begriff Graphic Novel nicht schon innerhalb des Comic- und Manga-Marktes schwierig genug, wird er mittlerweile auch häufig als Bezeichnung für illustrierte Romane, Novellen und Kurzgeschichten oder für Bilderbücher für Erwachsene genutzt. So sehe ich immer wieder, dass Leser*innen die Bücher von Benjamin Lacombe als Graphic Novel bezeichnen. Lacombe hat in seinem Leben nur einen einzigen Comic gezeichnet: „Leonardo & Salaï“, der von der Liebe zwischen Leonardo da Vinci und dessen Assistenten handelt. Die anderen Bücher des französischen Künstlers sind entweder illustrierte Romane und Kurzgeschichtensammlungen (z.B. „Alice im Wunderland“ oder „Unheimliche Geschichten“) oder Bilderbücher für Erwachsene. Denn ja: Es gibt auch Bilderbücher, die sich nicht an Kinder, sondern explizit an Erwachsene richten. Diese Bücher kann und darf man ruhig guten Gewissens so bezeichnen. Eines neuen Labels bedarf es nicht – erst recht nicht, wenn dieses nur der Image-Aufwertung dient, weil manche Leser*innen Vorurteile gegenüber bestimmten Formaten haben. Ein Bilderbuch für Kinder würdet ihr doch nie als Graphic Novel bezeichnen, oder? Also tut es auch nicht bei Titeln für Erwachsene!

Klassiker wie Dickens‘ Weihnachtsgeschichte oder Melvilles „Bartleby der Schreiber“ werden übrigens auch nicht zur Graphic Novel, nur weil die Geschichte um ganzseitige Illustrationen ergänzt wird. Solche Bücher waren und sind einfach illustrierte Ausgaben. Nicht mehr und nicht weniger.

3. Warum wird der Begriff so gern genutzt und was ist daran so schlimm?

Wenn es nun so viele Schwierigkeiten mit der reinen Begrifflichkeit gibt, wieso greifen Verlage, Journalist*innen und Buchhandel dennoch so gern auf die Bezeichnung „Graphic Novel“ zurück? Kurz gesagt: aus Imagegründen.

Ein noch zu großer Teil der Gesellschaft hat leider arge Vorbehalte gegenüber Comics und Mangas: So manche*r betrachtet sie als „Kinderkram“ und anspruchslose Unterhaltung; im Fall der Mangas hält zudem das zweite Stereotyp, demnach Mangas zu gewalthaltig seien und Frauen / Mädchen zu sehr sexualisieren. Natürlich gibt es Comics und Mangas, auf die das zutrifft. Doch wer Comics und Mangas darauf reduziert, geht mit einem engen Tunnelblick über den Buchmarkt. Comics und Mangas sind inhaltlich und visuell mindestens ebenso vielseitig wie andere literarische Gattungen, was bspw. die Mangas „Reaktor 1F – Ein Bericht aus Fukushima“ oder das im zweiten Weltkrieg spielende „In This Corner of The World“ beweisen.

„Graphic Novel“ oder „Grafischer Roman“ klingt im ersten Moment jedoch gewichtiger als „Comic“ oder „Manga“ und eignet sich damit hervorragend als Köder, um Neuerscheinungen auch bei jenen in den Fokus zu rücken, die sich von den bewährten Bezeichnungen eher abschrecken lassen. Dies funktioniert in so weit, dass Comics und vereinzelte Mangas in den vergangenen Jahren tatsächlich auch vom Feuilleton besprochen wurden und auf Literaturblogs auftauchten, deren Betreiber*innen sich zuvor nie Comics widmeten.

„Aber das ist doch klasse, dass nun auch die Skeptiker*innen zu Comics greifen“, denken nun vielleicht einige von euch. Ja und nein. Natürlich ist es begrüßenswert, wenn Comics und Mangas eine breitere Leser*innenschaft gewinnen und kein Nischenprodukt bleiben. Allerdings geht diese Rechnung nur zum Teil auf:

Zunächst einmal lässt sich beobachten, dass nur bestimmte Titel in den Fokus gerückt werden – nämlich die, die ganz explizit als Graphic Novel beworben werden. Fehlt das Label und ein Titel wird schlicht als Comic und Manga beworben, ist die Repräsentation im Feuilleton und auf den Literaturblogs deutlich geringer. Wie oft seht ihr zum Beispiel im Feuilleton eine Besprechung eines Comics aus dem Splitter Verlag im Vergleich zu einer „Graphic Novel“ aus dem Hause Reprodukt, Carlsen oder Avant Verlag? Und wie oft findet ihr dort Manga-Besprechungen abseits der Titel Jiro Taniguchis? Wer Vorbehalte gegenüber Comics oder Mangas hat, legt diese nicht automatisch nach der Lektüre sogenannter „Graphic Novels“ ab und sucht Comicläden auf.

Der Plan, das Image von Comics und Mangas aufzuwerten, greift aber nicht nur zu kurz, sondern hat sogar einen gegenteiligen Effekt: Indem bestimmte Titel herausgepickt und als „Graphic Novel“ gelabelt werden, erfolgt automatisch eine Unterteilung in „gehobene“ und „gewöhnliche“ Titel. Nicht etikettierte Comics und Mangas werden damit indirekt als minderwertig klassifiziert. Dass hinter Comics und Mangas eine ganz eigene Kunstform steckt, wird dabei ausgeblendet. Im Fall von Mangas entwertet man durch das Graphic Novel-Label sogar eine ganze Kultur(technik). Einige Mangaka werden in Japan regelrecht wie Stars verehrt und das Mangazeichnen hat eine weit zurück reichende Tradition. Durch die Anpassung von Mangas an westliche Gewohnheiten – in Form der Spiegelung der Leserichtung und durch Etikettierung als Graphic Novel – wird dieser Teil der japanischen Kultur (und auch der chinesischen und koreanischen) mit Händen und Füßen getreten. Und um beim schon mehrfach erwähnten Beispiel Jiro Taniguchi zu bleiben: Dessen Stil gilt zwar als am „westlichsten“ innerhalb Japans, dennoch folgen seine Werke den wesentlichen Charakteristika von Mangas und Taniguchi selbst bezeichnete sich stets als Mangaka, nicht als Comic Artist oder Graphic Novel-Zeichner.

Kurzum:

Der Begriff „Graphic Novel“ ist letztlich ein reines Marketinglabel und ziemlich snobistisch. Wer Comics und Mangas ihrer selbst willen schätzt, braucht dieses Etikett nicht. Macht indes jemand die Lektüreauswahl davon abhängig, ob es sich um eine „Graphic Novel“ oder „nur“ einen Comic bzw. Manga handelt, so sagt dies weniger über den jeweiligen Titel oder die Medien Comic und Manga aus, als vielmehr über die jeweiligen Leser*innen.