Vor einigen Jahren entdeckte ich im BookCrossing-Regal meiner Uni „Der alte König in seinem Exil“. Die Geschichte von Arno Geigers Vater hatte mich damals so beeindruckt, dass ich mehr Bücher des österreichischen Autors lesen wollte. Doch mit jeder seiner Neuerscheinungen waren er und seine Romane plötzlich so dauerpräsent in der Blogosphäre und dem Feuilleton, dass ich mein Vorhaben immer wieder hinauszögerte. Kurz nach meinem Umzug in die baden-württembergische Landeshauptstadt erfuhr ich von „Stuttgart liest ein Buch“ und dass sich das stadtweite Lesefest in diesem Jahr um Arno Geigers „Unter der Drachenwand“ drehen würde. Also wann, wenn nicht jetzt, böte sich die Lektüre an?

Im Zentrum der Geschichte steht der Soldat Veit Kolbe, der nach einer Verwundung zur Genesung zurück in die Wiener Heimat geschickt wird. Dort angekommen spürt Veit sich schnell fehl am Platz. Mit Mitte 20 und nach fünf Jahren an der Front fühlt er sich um seine Jugend und die Gelegenheit eines Studiums beraubt; das tagtäglich gesehene Sterben, Töten, Leiden und Entbehren der Zivilbevölkerung und der Soldaten machen es ihm unmöglich, irgendeine Rechtfertigung für diesen Krieg anzuerkennen. Dass seine Verwandten und Nachbarn, allen voran sein Vater, weiterhin mit Feuereifer von einer vermeintlichen Notwendigkeit des Krieges, dem Sieg als einziger Option und dem angeblich großartigen Führer sprechen, stößt bei Veit auf Wut und Unverständnis. Er erkennt, dass er hier nicht bleiben kann und reist zu seinem Onkel an den Mondsee. Dort, unter der Drachenwand, versucht er Abstand zu gewinnen. Am Ende wird er das ganze Jahr 1944 dort verbringen – ein Jahr, das ihn auf eine ganz eigene Weise prägen wird und in dem er genug Selbstvertrauen entwickelt, um seinem Vater und anderen ach-so-klugen Sprücheklopfern die Stirn zu bieten und sich für jene einzusetzen, die nicht in das vorherrschende Weltbild passen.

Doch es ist nicht nur Veit Kolbes Leben, das unter der Drachenwand eine Wendung nehmen soll. Da ist der Bruder der Quartiersfrau, der aufgrund mehrerer verbrachter Jahre in Brasilien von allen nur „der Brasilianer“ genannt wird und der in seinem Gewächshaus Orchideen züchtet, wobei er jede Nacht brasilianische Musik auflegt und in Erinnerungen an eine bessere Zeit an einem schöneren Ort schwelgt. Seine Träume von einer freien, friedlichen und lebensbejahenden Gesellschaft und seine Regimekritik werden lange toleriert, kommen ihm aber eines Tages doch teuer zu stehen.

Wir begegnen außerdem einer jungen Mutter aus Darmstadt, für die das Jahr in Mondsee einen Neubeginn darstellen wird, treffen eine junge Lehrerin, die lieber woanders wäre, stets reserviert auftritt und niemanden an sich heranlässt, und wir verfolgen die verbotene Liebesgeschichte der 13-jährigen Nanni. Hin und wieder verlassen wir den Mondsee. Dann folgen wir den Spuren des Juden Oskar Meyer, der mit Frau und Kind nach Ungarn geflohen ist, wo das Leben zunächst friedlicher zu sein scheint, bis der Nationalsozialismus auch hier in aller Grausamkeit wütet.

All diesen Figuren gibt Arno Geiger im wahrsten Wortsinn eine eigene Stimme. In Briefen, Tagebucheinträgen und inneren Monologen lässt er sie erzählen. Dabei verzichtet der Autor auf Datumsangaben oder Benennung der jeweils Erzählenden. Nicht immer ist daher erkennbar, wo ein Brief endet und ein anderer beginnt oder wann wir uns befinden. Aber wer spricht, wird dank der individuellen Stimmen in jedem Kapitel schnell deutlich. Sprachlich ist Arno Geiger dabei extrem auf den Punkt: Er braucht weder große noch viele Worte. Aus bzw. zwischen den Zeilen lässt sich eine Menge herauslesen und oft reicht schon eine kurze Andeutung, um weitere Bilder im Kopf zu erzeugen, um aus einem einzigen Teil ein ganzes Puzzle zusammenzusetzen. Mein Exemplar des Buches versah ich bereits auf den ersten beiden Seiten mit zwei Markierungen. Am Ende der Lektüre zierten das Buch so viele Klebezettel, wie ich es bei einem Buch lange nicht mehr erlebt habe.

Was Arno Geiger in „Unter der Drachenwand“ schildert und wie er dies tut, offenbaren dabei – leider – immer wieder starke Parallelen zur aktuellen gesellschaftlichen und politischen Lage. Wenn beispielsweise Veit Kolbe von seinem Vater und Onkel immer wieder mit dem blinden Führerkult und dem „alles fürs Vaterland“-Gelaber konfrontiert wird, erinnert das an die familieninternen Diskussionen und Spaltungen, die ich und viele andere dort draußen regelmäßig mit vom Populismus verblendeten Verwandten und Bekannten erleben. Das macht „Unter der Drachenwand“ hochaktuell.

Lediglich im letzten Drittel schwächelte das Buch für mich. Nachdem die ersten zwei Drittel durch die vielen Protagonisten und die Fülle an Ereignissen dramaturgisch sehr dicht war, ließen das Tempo und die Multiperspektivität später nach. So mancher Stelle hätte eine Straffung gutgetan und das Ende des Buches hätte auch schon ein, zwei Kapitel früher einsetzen können. Zwei wichtige Ereignisse im letzten Drittel wurden hingegen sehr nüchtern und leichtfertig abgehandelt und konnten mich daher nicht so bestürzen, wie sie es hätten tun sollen.

Fazit:

Trotz einiger Schwächen gegen Ende ein hochaktueller und sprachlich hervorragender Roman.

Arno Geiger: „Unter der Drachenwand“ (Sonderausgabe anlässlich „Stuttgart liest ein Buch 2019“), dtv 2019, ISBN: 978-3-423-08664-6