Ich liebe es, endlich wieder in einer großen Stadt zu leben: eine wunderschöne Stadtbibliothek mit diversen Zweigstellen, mehrere Buchhandlungen und ein großes, breites Kulturangebot. Eine meiner ersten Entdeckungen nach meinem Umzug nach Stuttgart war daher auch das Projekt „Stuttgart liest ein Buch“. Alle zwei Jahre organisiert das Stuttgarter Schriftstellerhaus unter der Feder von Geschäftsführerin Astrid Braun und mit Unterstützung von Verlagen, Stadtverwaltung und diversen weiteren Akteuren ein ca. zweiwöchiges, buntes Programm zu einem ausgewählten Buch. In diesem Jahr stand Arno Geigers Roman „Unter der Drachenwand“ im Fokus.

Bereits Wochen vor Beginn dieses besonderen Lesefestes zierten Zitate aus dem Roman die U-Bahn-Waggons. Dadurch begleiteten sie mich bei meinen täglichen Fahrten zur Arbeit und stimmten auf die anstehenden Veranstaltungen ein.

Zelebrieren eines Romans

Auftakt von „Stuttgart liest ein Buch 2019“ war am Montag, 16. September 2019, im Hospitalhof – eine sehr schöne, festliche Location, die zwar viel, aber längst nicht genug Platz bot: Rund 800 Personen kamen und obwohl der Saal groß und zusätzliche Sitzmöglichkeiten auf der Empore vorhanden waren, mussten etliche Gäste (darunter auch ich) den Abend auf dem Fußboden verbringen. Genießen konnte man die Veranstaltung trotzdem – und ich persönlich freute mich, so viele Literaturinteressierte abseits einer Buchmesse zu sehen. Sogar der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn war vor Ort und berichtete von seinem Erleben der Bücher Arno Geigers. Dabei ging es ihm wie mir und vielen anderen Lesenden: Die erste Begegnung mit Arno Geigers Werk stellte die Lektüre von „Der alte König in seinem Exil“ dar – und löste eine lange nachwirkende Begeisterung für Geigers Erzählkunst aus.

Der österreichische Autor war ebenfalls für mehrere Tage angereist. Auf seinem Programm standen neben Lesungen und Gesprächen auch Workshops mit Schulklassen. Während der feierlichen Eröffnung sprach er mit Wolfgang Tischer über seine schriftstellerische Arbeit im Allgemeinen und „Unter der Drachenwand“ im Besonderen. Über zehn Jahre beschäftigte Arno Geiger die Arbeit an diesem Roman. Lange wuchsen die Ideen in seinem Kopf, immer neue Figuren kamen hinzu und machten aus der Geschichte um den Wehrmachtssoldaten Veit Kolbe den Gesellschaftsroman, der er heute ist. Niedergeschrieben war die Geschichte aber tatsächlich in nur fünf Monaten.

Romane über den Zweiten Weltkrieg gibt es viele. Arno Geiger war es jedoch ein Anliegen, keine rückblickend erzählte Geschichte zu Papier zu bringen, sondern den Moment einzufangen: Es ist das letzte Kriegsjahr, so manche*r ahnt, dass der Krieg enden wird – doch wie lebt es sich mit der Ungewissheit über die Zukunft in einem zerstörten Land und im Angesicht des sinnlosen Aktionismus, in dem 14-, 15-jährige Jungen und selbst Verwundete an die Front geschickt und wichtige Lebensjahre regelrecht weggeworfen werden?

Wie Arno Geiger dabei über seine Figuren sprach, spürte man, wie sehr ihm diese und sein Roman am Herzen liegen. „Wenn man so lang an etwas arbeitet, verwächst es mit einem.“ Seine Bücher seien daher ein Teil von ihm. Auf die Anmerkung Wolfgang Tischers, dass er über seine Figuren spreche, wie über real existierende Personen, hielt Arno Geiger fest, dass man schlechte Romane an ihren konstruiert wirkenden Figuren erkennt. Eine fiktive Person könne dabei durchaus „echter“ sein, als ein Mensch aus Fleisch und Blut. Als Beispiel hierfür zog Arno Geiger Lew Tolstoi heran, der für seine präzisen und komplexen Figuren bekannt und geschätzt ist: „Anna Karenina existiert. Sie ist vielleicht wirklicher als Helmut Kohl in seiner Biografie.“

Was ich persönlich an Arno Geigers Schreibstil mag, sind seine treffsicheren Worte, mit denen es ihm immer wieder gelingt, auch in kurzen Zeilen viel zu vermitteln. Ein bewusster, gesteuerter Prozess sei das beim Schreiben jedoch nicht: „Ich finde, das Schreiben ist so unglaublich anspruchsvoll, dass ich dabei gar nicht darüber nachdenke: ‚Was willst du eigentlich ausdrücken?‘“

Sehr sympathisch machte den Autor nicht nur, wie er über seine Figuren oder das Schreiben im Allgemeinen sprach, sondern auch sein ruhiges Wesen, sein gesunder Eigenhumor und dieser besondere Charme, den ich bisher nur bei Österreichern erlebt habe.

Abgerundet wurde die Veranstaltung durch brasilianische Musik der Band Ipanema Beach Hotel und einer Lesung aus dem Beginn von „Unter der Drachenwand“, die wunderbar vorgetragen wurde von Sprecher Omid-Paul Eftekhari und bei der im Saal eine fast andächtige Stille herrschte. Abschluss des Abends bildete eine Inszenierung der Geschichte um die Romanfigur Nanni. Eine schlichte, weiße Puppe, geführt von Puppenspielerin Iris Meinhardt, verschmolz mit den Worten und Bildern der Videocollage des Künstlers Michael Krauss. Ganz ohne spektakuläre Effekte und erzählt auf sehr ruhige Weise berührte die Inszenierung mich auf fast schon überraschende Art und wirkte noch lange nach.

Inszeniert und neu verortet

In den kommenden Veranstaltungen von „Stuttgart liest ein Buch 2019“ wurden die Figuren und Themen von „Unter der Drachenwand“ in verschiedenen Kontexten interpretiert, weitergedacht und mit der Historie Stuttgarts verknüpft. Beispielsweise fand eine geführte Wanderung auf den sogenannten Monte Scherbelino statt. Auf dem eigentlich Birkenkopf heißenden Berg wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Trümmer der Stadt Stuttgart aufgetürmt. Um rund 40 Meter „wuchs“ der Berg dadurch an, die Trümmer liegen dort noch heute. Ich selbst konnte an der Wanderung leider nicht teilnehmen, da ich arbeiten musste (und die Veranstaltung sowieso lange im Voraus ausgebucht war). Daher unternahm ich noch vor dem Startschuss zu „Stuttgart liest ein Buch“ meinen eigenen, zweiten Ausflug auf den Monte Scherbelino, wo auch das Titelfoto dieses Beitrags entstand. In der kurzen Zeit, die ich in Stuttgart lebe, ist der Berg zu einem meiner Lieblingsorte geworden und falls es euch einmal in die Landeshauptstadt führt, unternehmt eine Wanderung hinauf!

Sehr erlebenswert war für mich auch die Inszenierung der Akademie für gesprochenes Wort am Samstag, 21. September 2019. Unter der Regie von Marc Vereeck lasen vier Sprecher*innen in Monologen und Dialogen Passagen aus „Unter der Drachenwand“. Das Besondere dabei: Die szenischen Lesungen fanden parallel in unterschiedlichen Räumen der Akademie statt und das Publikum konnte frei zwischen diesen hin und her wechseln. Die Räume waren dabei auch den passenden Settings aus dem Roman angepasst: In einem als Gewächshaus gestalteten Zimmer wurde die Geschichte des Orchideen anbauenden Brasilianers erzählt. In zwei angrenzenden, durch eine offene Tür verbundenen Räumen lauschten wir, wie sich die Zimmernachbarn Veit und Margot annähern. Zwischendurch erfüllte der Gesang zweier stimmgewaltiger Solistinnen das gesamte Gebäude. Eine Audio-Installation am Hauseingang informierte zudem über die Geschichte der jüdischen Familie Blum, zu deren Gedenken zwei Stolpersteine vor dem Akademiegebäude angebracht wurden. Rückblickend wurde die szenische Lesung der Akademie für gesprochenes Wort für mich zu einem der Highlights von „Stuttgart liest ein Buch 2019“.

Fremdgelesen

Obwohl „Unter der Drachenwand“ im Fokus von „Stuttgart liest ein Buch“ stand, widmeten sich die Veranstalter auch anderen Romanen und Sachbüchern. So gab es u.a. Lesungen aus Arno Geigers Roman „Alles über Sally“ und aus „Der alte König in seinem Exil“. Letztere Veranstaltung besuchte auch ich. In der Stadtbibliothek am Mailänder Platz drehte sich am Donnerstag, 19. September 2019, einen Abend lang alles um das wohl bekannteste Buch Geigers, in dem er über die Alzheimererkrankung seines Vaters schrieb. Mit Moderator Wolfgang Niess sprach der Autor über seinen Vater und dessen Krankheit, über die Arbeit am Buch und darüber, wie seine Familie darauf reagierte. Währenddessen konnte ich regelrecht vor mir sehen, wie der Autor am Tisch neben seinem Vater sitzt und gleichzeitig am Buch schreibt, die ungewöhnlichen, im Kern oft so wahren und treffend formulierten Sätze des kranken Vaters für immer festhaltend.

Wolfgang Niess führte dabei so gekonnt und lebendig durch den Abend, dass ich mir keinen besseren Moderator für diese Veranstaltung hätte wünschen können. Tief beeindruckt war ich davon, wie er über Arno Geiger und „Der alte König in seinem Exil“ sprach: Ich habe ihm angemerkt, wie intensiv er sich mit dem Autor beschäftigte und dass er das besprochene Buch selbst sehr gern gelesen hatte. So eine ansteckende Begeisterung für einen Interviewpartner und dessen Arbeit habe ich in der Tat nicht oft erlebt und ich würde mir mehr Moderatoren wie Wolfgang Niess wünschen.

Hervorragend gewählt war auch Rudolf Guckelsberger, der mehrere Szenen aus „Der alte König in seinem Exil“ las: Jede Betonung, jede Pause waren so perfekt auf den Text abgestimmt, dass ich mich nicht nur daran zurückerinnerte, wie ich das Buch einst las, sondern regelrecht meinte, Arno Geigers Vater spreche höchstpersönlich zu mir.

Eine weitere Veranstaltung widmete sich der literarischen Aufarbeitung der letzten Kriegsjahre. In der Begegnungsstätte Bischof-Moser-Haus stellten am Freitag, 20. September 2019, Literaturwissenschaftlerin Monika Lange-Tetzlaff und Robert Tetzlaff vom Antiquariat Buch & Plakat verschiedene Bücher vor, die auf ganz unterschiedliche Weise das nahende Kriegsende thematisieren. Neben Arno Geigers „Unter der Drachenwand“ wurde die Aufmerksamkeit gelenkt auf Walter Kempowskis „Das Echolot“, Arno Schmidts „Leviathan“, Antoine de Saint-Exupérys „Flug nach Arras“, Kenzaburō Oes „Reißt die Knospen ab …“, Florian Hubers „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ sowie die Fabel „Der einfach kleine Spatz“. Renate Fischer vom Trio Leselust trug aus jeder Geschichte eine Passage vor und vermittelte dadurch einen Eindruck vom sprachlichen Stil der jeweiligen Texte.

Als sehr schade empfand ich bei dieser Veranstaltung, dass es kein offenes Gespräch über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Werken gab, wie ich es ursprünglich erwartet hatte. Vielmehr wurde jeder Titel nacheinander und für sich allein stehend vorgestellt, wobei die beiden Vortragenden einem festen Skript folgten und durchweg vom Blatt lasen. Das wirkte leider wenig professionell und erinnerte mich eher an die Vorträge, die wir als Studierende zu Themen halten mussten, von denen wir selbst noch keine Ahnung hatten.

Resümee

Umrahmt von leidenschaftlich vorgetragener lateinamerikanischer Musik durch Botond Rab (Querflöte) und Ulrich Wedlich (Gitarre) und unter der erneuten Moderation von Wolfgang Tischer zogen Veranstalter, Unterstützer und Leser*innen am Freitag, 27. September 2019, in den Räumlichkeiten der Volkshochschule ihr persönliches Fazit vom diesjährigen „Stuttgart liest ein Buch“. Besonders interessant fand ich die Ausführungen der Lehrerin Sofija Spajic. Sie hatte den Roman mit vier Klassen der Jahrgangsstufen 8 bis 10 des Heidehofgymnasiums behandelt. Dabei wurden unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte gesetzt. Für die jüngeren Schüler*innen sei der Roman noch zu anspruchsvoll gewesen, was vermutlich zu erwarten war. Überrascht habe jedoch, dass einige der Jugendlichen die detaillierten Beschreibungen der Verletzungen als heftig und eklig empfanden – in einer Zeit, in der Heranwachsende tagtäglich mit Gewalt in den (visuellen) Medien konfrontiert würden, sei es interessant, dass eine rein textliche Beschreibung solche Empfindungen auslösen kann. Auch für die Schüler*innen wäre es eine neue Erfahrung gewesen, dass Worte so wirken und derart intensive Bilder im Kopf auslösen können. Insgesamt sei die Beschäftigung mit Geigers Roman bei den Schulklassen gut angekommen; dass der Autor die Schule in den vergangenen Tagen besuchte und sich mit den Schüler*innen austauschte, wäre für die meisten etwas Besonderes gewesen und habe sie noch einmal anders auf Literatur blicken lassen.

Und ich? Wie fand ich mein erstes „Stuttgart liest ein Buch“? Großartig! Für mich fühlte es sich an, wie eine Buchmesse – nur länger und konzentriert auf einen Autor. Zwei Wochen lang habe ich mich abseits der Arbeit ausschließlich mit Arno Geiger und „Unter der Drachenwand“ beschäftigt. Eine unglaublich intensive Zeit. Das Besuchen der Veranstaltungen, während ich gleichzeitig noch den Roman las, bot ein schwer zu beschreibendes, tolles Leseerlebnis. Ich merkte, wie sich die Eindrücke aus den Lesungen und Gesprächen während meiner eigenen Lektüre verbanden, mein eigenes Lesen mitprägten. Es hätte für mich also kein besseres literarisches „Willkommen im neuen Zuhause“ geben können. Allerdings gab es während mancher Veranstaltungen arge Spoiler. Für das nächste „Stuttgart liest ein Buch“ wünsche ich mir daher mehr Rücksicht auf jene, die das Buch noch nicht beendet haben.