Nnedi Okorafor spaltet mit ihrer Science Fiction immer wieder die Meinungen der Leserinnen und Leser: Die einen empfinden ihre Geschichten als innovativ und loben die Einflechtung afrikanischer Mythen und Schauplätze, andere bemängeln, dass Okorafors Geschichten hinsichtlich Handlung und Charakteren schwächeln. Daher nahm ich das von Binge Reading & More initiierte Projekt #WomeninSciFi zum Anlass, mich Nnedi Okorafors Roman „Lagune“ zu widmen und herauszufinden, woher all das Lob und die Kritik rühren.
In „Lagune“ entführt uns die US-Autorin in die Heimat ihrer Eltern: Nigeria. Genauer gesagt nach Lagos, die Lagunen-Stadt, die – nach Ansicht der Autorin – so viel Schönes und Hässliches vereint wie kein anderer Ort dieser Welt. Okorafors Liebe zu dieser Stadt wird in jeder Zeile des Buches spürbar. Sie fängt gekonnt die Stimmung und das Leben in dieser Stadt auf, ohne auf detaillierte Beschreibungen zurückgreifen zu müssen. Als Leserin fühlte ich mich zeitweise, als befände ich mich mitten unter den Einwohnern diese Stadt. Ich spürte die Hitze auf meiner Haut, roch das salzige Meer und atmete die schmutzige Luft ein, welche die „Fahr-Lahms“[1] verursachten. In der Schaffung von Atmosphäre liegt dabei Nnedi Okorafors größte Stärke. Das zeigt sich bereits im Prolog, in dem sie einen Schwertfisch erzählen lässt. Wir sehen, denken und bewegen uns wie der Fisch durch das Meer vor Lagos, werden wütend angesichts der Menschen, die mit ihrem Öl unseren Lebensraum verseuchen und fühlen uns plötzlich magisch angezogen zu etwas Neuem, Fremden im Meeresgrund, etwas, das uns und die anderen Meeresbewohner größer und stärker macht und uns damit etwas schenkt, womit wir uns den Menschen zur Wehr setzen können. Dieser intensive, alle Sinne ansprechende Prolog gehört wohl zu den besten Buchbeginnen, die ich je gelesen habe und setzte damit die Messlatte für den Rest des Romans hoch.
Leider ist es Okorafor jedoch nicht gelungen, dieses Niveau zu halten. Das fängt bereits bei der dürftigen Handlung an, die uns Altbekanntes an einem lediglich neuen Schauplatz präsentiert: Außerirdische sind in den Tiefen des Ozeans gelandet, um auf unserem Planeten eine neue Heimat zu finden. Eine von ihnen, die später unter dem Namen Ayodele bekannt sein wird, nimmt den Erstkontakt zur Menschheit auf. Sie führt drei Menschen am Strand von Lagos zusammen, die zwischen den Außerirdischen und der nigerianischen Bevölkerung vermitteln sollen. Zu ihnen gehören die Meeresbiologin Adaora, der erfolgreiche, ghanaische Rapper Anthony und der Soldat Agu. Drei Menschen, die durch ihren Sachverstand, ihre Wortgewandtheit und ihre Kontakte zu Militär und Politik auf verschiedenen Ebenen agieren können. Doch die Menschen reagieren, wie sie dies fast immer bei etwas Fremdem, Unbekannten tun: mit Panik, Angst und Vorurteilen. Binnen 24 Stunden versinkt Lagos in Chaos und Gewalt, während gleichzeitig verschiedene Institutionen und Personenkreise versuchen, aus diesen Entwicklungen einen Vorteil zu ziehen. Man kennt das. Nur ist der Schauplatz dieses Mal nicht Nordamerika, sondern Afrika. Lässt sich dadurch das schon tausendfach durchgespielte Szenario einer Begegnung zwischen Menschheit und außerirdischen Lebensformen neu erzählen? Theoretisch ja. Praktisch hat Nnedi Okorafor diese Chance aber vertan. Stellt man sich die Frage, ob Okorafors Geschichte in dieser Weise auch an jedem beliebigen anderen Ort der Welt hätte spielen können, muss man diese leider eindeutig mit Ja beantworten.
Dabei hätten afrikanische Erzähltraditionen und Mythen durchaus zu einer neuen Perspektive und individuellen Umsetzung der Erstkontaktthematik führen können. Okorafor hat dies im Laufe des Buches ein paar Mal versucht, in dem sie Gottheiten oder übernatürliche Wesen einführt. Leider sind diese zu lose mit der Geschichte verflochten; ihre Handlungsstränge werden kurz aufgegriffen und anschließend für lange Zeit oder gar für immer fallen gelassen. Ähnlich verhält es sich mit anderen Grundgedanken und Ideen, die sich in „Lagune“ finden lassen, beispielsweise der schmale Grat zwischen Glauben und Fanatismus, die Eigendynamik gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen oder der Hang der Menschheit zur Zerstörung. „Lagune“ hätte somit leicht als Spiegel aktueller politischer und gesellschaftlicher Missstände wie Xenophobie fungieren können: Obwohl die Menschen in Lagos noch nichts über die Absichten der Außerirdischen wissen, sehen sie sie direkt als Bedrohung an – aus Angst vor den Fremden, aus Sorge darüber, dass ihre Ankunft Nachteile für die in Lagos lebenden Menschen mit sich bringt. Doch Nnedi Okorafor greift diese Parallelen nicht weiter auf. Sie lässt auf episodenhafte Weise verschiedene Figuren zu Wort kommen, um uns einen breitgefächerten Überblick über die Ereignisse in der Stadt zu geben, springt dabei allzu oft hin- und her und verstrickt sich in einem Potpourri aus Figuren und gut gemeinten Ideen, für die in diesem Ausmaß auf den rund 400 Seiten nicht genug Platz ist. Nnedi Okorafor hat viel gewollt und genau deshalb zu viele Abstriche gemacht, um alles zumindest kurz einbinden zu können.
Das geht nicht nur auf Kosten der spärlichen Handlung, sondern auch auf Kosten der Charaktere, die zu einem großen Teil recht blass oder gar stereotyp bleiben und deren tiefer liegende Beweggründe kaum deutlich werden. So sieht sich Meeresbiologin Adaora nach über zehn Jahren ihrem radikal veränderten Ehemann gegenüber: Einst ein liebevoller Mensch, der sie in all ihren Zielen und Träumen unterstützte, agiert er scheinbar aus dem Nichts heraus zornig, gewalttätig und intolerant. Okorafor begründet diesen Wandel mit einem traumatischen Erlebnis während eines Fluges und einem dadurch erweckten religiösen Fanatismus. Eine Erklärung, mit der es sich die Autorin einfach gemacht hat und die im Ausmaß der Veränderungen doch noch zu dürftig erscheint, insbesondere da Adaoras Ehemann im weiteren Verlauf des Buches noch einmal einen solchen Wandel um 180 Grad vollzieht.
Kann „Lagune“ dann wenigstens hinsichtlich der Science Fiction-Elemente überzeugen? Nicht, wenn man wirklich Wert auf die Science legt. „Lagune“ ist ein Roman über uns Menschen an sich, in dem zufällig auch Außerirdische und eine Meeresbiologin eine Rolle spielen. Wissenschaftliche Konzepte, Phänomene oder Ideen werden quasi gar nicht aufgegriffen, weshalb auch Adaoras Profession der Meeresbiologin überflüssig ist und sie jeden anderen Beruf hätte ausüben können, ohne dass dies Auswirkungen auf die Geschichte gehabt hätte.
Fazit:
Für den ein oder anderen Lesenden mag es erfrischend wirken, Altbekanntes und Bewährtes an einem Schauplatz zu erleben, der in der Literatur noch verhältnismäßig wenig bedient wird. Wer jedoch gezielt auf der Suche nach etwas wirklich Neuem und Innovativem ist oder sich auch nur eine Handlung mit Tiefgang und wissenschaftlichen Schwerpunkten wünscht, ist mit Nnedi Okorafors „Lagune“ falsch bedient. Für mich entpuppte sich „Lagune“ daher nach einem starken Start und hohen Erwartungen als große Enttäuschung.
[1] Staus bzw. stockender Verkehr durch zu stark befahrene Straßen
Nnedi Okorafor: „Lagune“, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Claudia Kern, Cross Cult 2016, ISBN: 978-3-86425-873-2
Das klingt nach ganz viel Chaos und Verwirrung im Kopf, das beim Lesen entstehen kann, wenn ein Autor zu viel hineinpackt und Themen nur oberflächlich behandelt. Obwohl ich mich mit SF nicht auskenne habe ich deinen Beitrag sehr gerne gelesen. Liebe Grüße aus Hamburg!
Hallo Tanja,
chaotisch und verwirrend war es eigentlich nicht. Mir hatte es – im Gegenteil – zu viele Längen und Leeren, weil Momente aus zig Sichtweisen geschildert wurden und die Geschichte dadurch immer wieder ein paar Stunden zurückspringt und einfach nicht vorankommt.
Ich habe mir „Lagune“ im Vorfeld einfach ganz anders vorgestellt: mystischer, mit mehr philosophischen und wissenschaftlichen Fragestellungen … Andere mochten das Buch wiederum sehr. Am Ende entscheiden wohl einfach die Erwartungen, die man im Vorfeld an die Geschichte stellt, welchen Eindruck die Umsetzung hinterlässt. Soleil hat auf Verlorene Werke (https://verlorene-werke.blogspot.com/2017/09/lagune-nnedi-okorafor.html) ähnliche Kritik wie ich geäußert und in den Kommentaren auch die Frage aufgeworfen, ob das Buch eventuell von vielen nur gelobt wird, weil Afro-Futurismus bisher kaum in der Literatur zu finden ist und Okorafor lediglich als eine der ersten Autorinnen des Genres gefeiert wird. Wenn ich ehrlich sein soll: Diesen Eindruck hatte ich bei vielen Besprechungen bisher auch. Ich werde aber sicher irgendwann ein weiteres Buch von Okorafor lesen; „Binti“ scheint in eine wissenschaftlichere Richtung zu gehen und damit eher meinen Geschmack zu treffen.
Liebe Grüße
Kathrin
Ich bin ein bisschen spät dran, aber habe Deine Meinung sehr gern gelesen. Sie deckt sich in vielem mit meiner – und vielen lieben Dank für die Erwähnung :) Wie man aber sieht, habe ich ein weiteres Buch der Autorin gelesen und würde auch gern noch in ein weiteres schauen. Wirklich schlecht kann man Okorafors Werke nicht nennen, aber eben auch nicht herausragend. Ich fände es schön, wenn noch mehr Autoren den Mut fänden, den gleichen Weg wie sie zu beschreiten, dann gibt es auch mehr abwechslungsreichen Lesestoff. Daumen drücken.
Hallo Daniela,
auch ich werde bestimmt noch ein oder zwei Bücher von Nnedi Okorafor lesen. Wie du schon sagst: Sie schreibt ja nicht schlecht, aber es gibt eben doch noch reichlich Luft nach oben und ich bin gespannt, wie sich ein Werk liest, dessen Handlung und Figuren mehr ausgereift sind. Und vielleicht ist Okorafors Werk wirklich nur ein erster Anstoß und auf uns kommen bald viele großartige Titel afrikanischer Autor*innen zu?! Oder generell Science Fiction und Fantasy abseits der Pfade von nordamerikanischen und europäischen Autoren (ich kann mir vorstellen, dass aus Südamerika und Asien sehr kreative Werke kommen/kämen).
Liebe Grüße
Kathrin
Das ist ja schade, dass das Buch dich nicht überzeugen konnte. Ich muss gestehen, dass ich bisher von dem Roman noch gar nichts gehört habe – ist irgendwie nicht zu mir durchgedrungen. Aber neulich habe ich in einem Podcast von afrikanischen Autoren gehört und wurde etwas wachgerüttelt, denn ich habe tatsächlich noch nichts von Autoren des afrikanischen Kontinents gelesen … shame on me.
Was die Science Fiction betrifft, hätte ich mit dem Buch bestimmt ein ähnliches Problem gehabt. Wenn Geschehen gar nicht erklärt wird und Wissenschaft nur für nettes name dropping herhält, bin ich meistens wenig begeistert. Das ist auch der Grund, warum es mich so stark von Young Adult weggetrieben hat (schon während ich ein Young Adult war). Es wirkt einfach sehr uninspiriert, wenn sich jemand gar nicht mit der Materie auseinandersetzt, die als Aufhänger einer Geschichte herhalten soll. Dann lieber so wie in „Alles was wir geben mussten“, wo von vornherein die Gefühlswelt eine Rolle spielt …
Du hast tatsächlich noch gar nichts von afrikanischen Autor*innen gelesen? :-O Zeit, das zu ändern! :D Was außerhalb von Europa und Nordamerika geschrieben wird, geht auf dem Buchmarkt ja leider oft schnell unter – ich könnte da grundsätzlich auch noch etwas breitgefächerter lesen. Aber gerade im Bereich SciFi bin ich durch Ted Chiang nun echt verwöhnt.
Was Young Adult betrifft, stimm ich dir zu. Mir kamen die Themen, die mich ursprünglich zu den Büchern griffen ließen, auch immer zu kurz. Ich mag es nicht, wenn Wissenschaft, politische oder religiöse Entwicklungen (bspw. in Form von Dystopien) nur als Kulisse für eine Liebesgeschichte oder eine Coming-of-Age-Story dienen. Für die üblichen kleinen und großen Dramen während der Jugend und des Erwachsenwerdens kann ich auch eine Disneyproduktion ansehen. :-/