Siegfried Lenz "So zärtlich war Suleyken"Nachdem ich letztes Jahr umzog und in den Genuss eines Balkons mit Blick ins Grüne kam, lese ich am liebsten im Freien – wenn die Sonne scheint und außer Vogelgezwitscher nichts zu hören ist, ist das Eintauchen in die Bücherwelten wie ein Kurzurlaub. Passenderweise tummeln sich in meinem Regal diverse Bücher, die durch ihre Handlungsorte oder Atmosphäre regelrecht für das Lesen in der Natur geschaffen worden zu sein scheinen.

Diesen Frühling, Sommer und Herbst möchte ich daher nutzen, um diese Bücher unter freiem Himmel zu entdecken. In meinem digitalen Lesetagebuch halte ich meine Lektüren unter dem Kapitel „Freiluftlesen“ fest.

Den Auftakt machen heute die Geschichten aus Siegfried Lenz‘ „So zärtlich war Suleyken“, die ich der wunderbaren Tanja vom Lese-Leuchtturm zu verdanken habe. Es wird meine erste Begegnung mit Siegfried Lenz sein und nach Tanjas leidenschaftlicher Besprechung des Werks bin ich umso gespannter auf die literarische Reise nach Masuren …

Update 11.00 Uhr:

Dem Lesen wohnt ein Zauber inne

Die erste Geschichte ist gelesen – und ich habe mich regelrecht verliebt! Könnte es denn auch einen einladenderen Auftakt in eine Geschichtensammlung geben als eine Geschichte mit dem Titel „Der Leseteufel“?!

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Der vielversprechenden Überschrift folgte dann auch ein Text, der mich trotz einiger holpriger Stellen in der wörtlichen Rede vom ersten Satz an in seinen Bann zog. Ich begegnete dem 71-jährigen Hamilkar Schaß, der gerade das Lesen gelernt hat und nun dessen Zauber hoffnungslos verfallen ist.

„Hamilkar Schaß las es wieder und wieder, klatschte dabei in die Hände, stieß, während er immer neue Entdeckungen machte, sonderbare dumpfe Laute des Jubels aus, mit einem Wort: die tiefe Leidenschaft des Lesens hatte ihn erfaßt.“ (S. 7)

Schaß versinkt in die Welt der Wörter, alles um sich herum vergessend. Selbst die lebensgefährliche Bedrohung durch den Einmarsch des Generals Wawrila hält ihn nicht vom Lesen ab – im Gegenteil: Während sich um ihn herum Angst und Panik breit machen, bittet Schaß darum, „nur noch ein Kapitel“ lesen zu können und blendet in bester Lesermanier die ihn umgebende Gefahr aus. Während sein Nachbar Adolf Abromeit um sein Leben und um seine Heimat Suleyken fürchtet, ist Schaß‘ größtes Problem die ständige Störung der Lektüre.

„‚Mir scheint‘, sprach er, ‚Adolf Abromeit, als ob auch du die Höflichkeit verlernt hättest. Wie könntest du mich sonst, bitte schön, während des Lesens stören.'“ (S. 8)

Trotz der gefährlichen Situation ist „Der Leseteufel“ unglaublich amüsant und eine brillante Liebeserklärung an das Lesen und die Magie der Wörter. Die Geschichte hat einen Charme und eine Sogwirkung, denen wohl niemand widerstehen können dürfte. Ich konnte es jedenfalls nicht, musste mich immer wieder dazu zwingen, nicht laut aufzulachen und so die ländliche Ruhe zu stören; die Seiten flogen dahin und eigentlich möchte ich gerade nicht zu den anderen Einwohnern Suleykens weiterziehen, sondern bei dem fabelhaften, liebenswerten Hamilkar Schaß bleiben. Doch andererseits: Wenn die Auftaktgeschichte bereits so grandios ist, wie viele andere Meisterstücke entgingen mir wohl, wenn ich nur bei Schaß verweilen würde? Also pack ich meine Sachen und ziehe weiter durch das kleine Suleyken.

Update 15.30 Uhr:

Herrlich überspitzt und gerade deshalb authentisch

Trotz zweier Pausen – die erste, weil die idyllische Stille der Natur von Coldplay-Songs aus dem Nachbarhaus gestört wurde, die zweite im Zuge eines herbstlich anmutenden Wetterumschwungs – habe ich inzwischen die ersten 10 der insgesamt 20 masurischen Geschichten gelesen. Zunächst durfte ich noch einmal einen Ausflug mit Hamilkar Schaß unternehmen und habe mich erneut herrlich amüsiert. Diese fast naive Abgebrühtheit bzw. Gleichgültigkeit gegenüber Autoritäten und Bedrohungen ist einfach grandios. Ein ganz fabelhafter Mensch!

Aber auch der Rest der masurischen Bevölkerung hat es in sich! Die Menschen in Siegfried Lenz‘ Geschichten sind derart eigen und speziell, dass sie eigentlich schon wieder völlig normal für so manches Dorf (oder auch manche Kleinstadt) sind. Ob das tückische, stehlende und dennoch sympathische Gespann aus Vater und Söhnen, die eigenbrötlerische Tante, deren Tod nur halbherzig betrauert wird oder die störrischen alten Männer, deren Beziehung zueinander von freundschaftlicher Feindschaft geprägt ist (heutzutage unter dem Label „Frenemies“ geläufig) – jeder hat seine Eigenarten, die so manchen Schlamassel, aber auch so manche glückliche Wendungen bereithalten. Langweilig wird es im Dorf Suleyken jedenfalls nicht – selbst, wenn einmal nichts Spektakuläres im Gange ist, dürften diese Charaktere unter ihren Nachbarn Anlass für Klatsch und Tratsch bieten. Schließlich wissen in so kleinen Dörfern alle stets mehr über eine Person, als diese Person es über sich selbst tut.

Lenz portraitiert seine Charaktere dabei immer ein wenig überspitzt, bedenkt sie stets mit einem Augenzwinkern und zeichnet die Dorfgemeinschaft und ihre Erlebnisse gelegentlich fast schon karikaturistisch. Das gelingt ihm mit derart viel Feingefühl, dass die Figuren trotz (oder gerade wegen) dieser Überzeichnung äußerst authentisch und erfrischend ungekünstelt daherkommen.

Update 19.30 Uhr

Adieu schönes Suleyken!

Was für ein wundervoller Tag! Ich bin zurück aus Suleyken – und völlig hin und weg! Den Geschichten aus dem kleinen Dorf wohnt wirklich ein ganz eigener Zauber inne.

In den letzten 10 Ausflügen nach Masuren habe ich einer mehr als ungewöhnlichen, entzückend unschuldigen, fast schon naiven Verlobung beigewohnt, ein Saufgelage beim Schützenfest überstanden und die unerschütterliche Liebe der Masuren zu ihrer Heimat erfahren. Mit unvergleichlicher Geduld und gelegentlich auch smarter List geht die Dorfgemeinschaft entschlossen gegen jeden an, der sie auch nur eines Stückes ihrer schönen Natur berauben möchte. Auch von weitgereisten Schwätzern lässt sich hier niemand blenden. Statt sich über eine Anbindung an das Bahnverkehrsnetz zu freuen, zeigt man Distanziertheit und Unaufgeregtheit – lediglich die Sitzbänke finden Anklang, was allerdings ebenfalls schnell der Vergangenheit angehört, da Schaß und die anderen nicht mal ein, zwei Exemplare davon mitnehmen können, obwohl in der Bahn doch sowieso viel zu viele Bänke herumstehen. Also zeigt die Dorfgemeinschaft auch schnell und lautstark was sie von diesem Zug hält, bis die Betreiber schließlich einknicken und einsehen, dass sie den Bewohnern Suleykens nicht einbläuen können, dass sie mit der Bahnanbindung näher an Amerika seien. Was wollen die Masuren auch in Amerika?

„‚Warum‘, kreischte sie, ‚hol’s der Teufel, sollen wir alle fahren nach Amerika? Ist’s hier nicht auch schön?'“ (S. 72)

Und hinaus in die Weite blickend mit ihren Wundern der Natur, Gesängen von Kuckuck und Staren lauschend, komm ich nicht umhin, der eigensinnigen, aber liebenswerten Dorfgemeinschaft zuzustimmen.

Siegfried Lenz: „So zärtlich war Suleyken“, Fischer Taschenbuch Verlag 2014, ISBN: 978-3-596-20312-3

PS: Ein unbeschreiblich großes Dankeschön gilt an dieser Stelle Tanja vom Lese-Leuchtturm, die meine Neugier auf die Masuren geweckt hat und mich prompt zum Ausflug mit Siegfried Lenz einlud. Danke, liebe Tanja, dass du mir auf diese Weise einen himmlischen Lesetag beschert hast! 

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