Dickens_Flix_WeihnachtsabendSieht man von der Geschichte um die Geburt Jesus‘ ab, ist Charles Dickens‘ „A Christmas Carol in Prose“ unbestreitbar die Weihnachtsgeschichte, die es zur größten Bekanntheit brachte und am häufigsten adaptiert wurde: Es gibt unzählige Verfilmungen, diverse Hörspiele, Theater- und Musicalinszenierungen rund um die Läuterung des Geizhalses und Weihnachtshassers Ebenezer Scrooge. Hinzu kommen etliche Filme und Bücher, die das Thema eines durch Geister bekehrten Menschen aufgegriffen haben.

Doch wer hat Dickens‘ Geschichte, die im deutschsprachigen Raum unter den Titeln „Eine Weihnachtsgeschichte“, „Ein Weihnachtslied in Prosa“ und „Der Weihnachtsabend“ zu finden ist, auch tatsächlich gelesen und nicht nur gesehen oder gehört?

Wer sich an dieser Stelle eingestehen muss, die weihnachtliche Geistergeschichte nie gelesen zu haben, der hat unter den diversen Publikationen die berühmte Qual der Wahl: mit oder ohne Illustrationen, als Taschenbuch oder Hardcover, für weniger oder mehr als 10€; es gibt stark gekürzte Versionen für Kinder (ich wuchs beispielsweise mit einer Pop-Up-Ausgabe auf) und sogar einen Adventskalender, der aus der Geschichte zusammengesetzt ist.

Eine besonders schöne Ausgabe hat in diesem Jahr der Insel Verlag vorgelegt. Unter dem Titel „Der Weihnachtsabend“ hat Eike Schönfeld den Klassiker für die Reihe Insel-Bücherei neu übersetzt. „Zeitgemäß“ bezeichnet der Verlag Schönfelds Übersetzung – wer daher fürchtet, eine allzu modernisierte Wortwahl zu finden, der sei beruhigt: Eike Schönfeld ist Dickens‘ Stil treu geblieben und hat auch heutzutage weniger gebräuchliche Ausdrücke wie „fürbass“ einfließen lassen, was den Charme der über 150 Jahre alten Geschichte zugutekommt. Deutlich moderner sind da schon die farbigen Illustrationen, die der wunderbare Flix, der sich nicht zuletzt mit seinen Graphic Novel-Adaptionen der Klassiker „Faust“ und „Don Quijote“ einen Namen machte, beisteuerte. Flix‘ Bilder sind erfrischend, lebendig und humorvoll. Mir persönlich gefallen sie im Übrigen auch weit mehr als John Leechs Illustrationen in der englischen Originalausgabe – tatsächlich habe ich das Büchlein des Insel Verlags nur wegen Flix‘ Illustationen gekauft, da Dickens berühmte Weihnachtsgeschichte bereits in einem Dickens-Sammelband („Weihnachtserzählungen“, Rütten & Loening, 1984) in meinem Regal stand.

„A Christmas Carol in Prose“ ist jedoch nicht die einzige Weihnachtserzählung, die Charles Dickens schrieb. In den Jahren 1843 bis 1848 verfasste Dickens fünf Geschichten, die jeweils kurz vor Weihnachten veröffentlicht wurden und später schlicht unter dem Titel „Weihnachtserzählungen“ gebündelt wurden (erschienen z. B. bei dtv):

  • „A Christmas Carol  in Prose“ (dt. Titel: „Eine Weihnachtsgeschichte“ / „Der Weihnachtsabend“/ „Ein Weihnachtslied in Prosa“, 1843)
  • „The Chimes“ („dt. Titel: „Die Silvesterglocken“, 1844)
  • „The Cricket on the Hearth“ (dt. Titel: „Das Heimchen am Herd“, 1845)
  • „The Battle of Life“ (dt. Titel: „Der Kampf des Lebens“, 1846)
  • „The Haunted Man and the Ghost’s Bargain“ (dt. Titel: „Der heimgesuchte Mann“, 1848)

Von der Bezeichnung „Weihnachtserzählungen“ sollte man sich jedoch nicht täuschen lassen: Mit Ausnahme der ersten und letzten spielt keine der Geschichten während der Weihnachtszeit, auch haben sie nichts sonderlich Weihnachtliches an sich, sodass man die Erzählungen durchaus über das ganze Jahr verteilt lesen kann. Obwohl die Geschichten sich hinsichtlich Inhalt und Qualität unterscheiden, stehen im Mittelpunkt aller Erzählungen Grundsatzfragen zum Leben und Miteinander. In „Die Silvesterglocken“ stellt Dickens beispielsweise die Frage danach, ob Menschen böse geboren und durch äußere Umstände dazu gemacht werden, er thematisiert die ewige Kluft zwischen Arm und Reich und prangert scheinheilige Wohltätigkeit an. Belehrend kommen auch „Ein Weihnachtslied in Prosa“ und „Der heimgesuchte Mann“ daher, während „Das Heimchen am Herd“ eine regelrechte Wohlfühlgeschichte ist, bei der dem Leser bzw. der Leserin warm ums Herz wird. „Der Kampf des Lebens“ indes ist – anders als der Titel erahnen lässt – eine Liebesgeschichte, bei der Dickens jedoch zu oft vom Kern der Handlung abschweift und Nebensächlichkeiten allzu langatmig darstellt – kein Wunder also, dass „Der Kampf des Lebens“ von Dickens‘ Weihnachtserzählungen die am wenigsten populärste wurde (vgl. u.a. David Perdue’s Charles Dickens PageNicholoas Clark (University of Otago)).

Doch egal, ob ihr lediglich „Der Weihnachtsabend“ oder die gesammelten Weihnachtserzählungen lest, euch erwarten in jedem Fall zeitlose Themen, über die sich trefflich diskutieren und philosophieren lässt – nicht nur zur Adventszeit.

“ ‚[…] Dennoch war die Weihnachtszeit, wenn sie dann kam, für mich stets […] eine gute Zeit, eine freundliche, nachsichtige, gütige, angenehme Zeit, die einzige im langen Kalender des Jahres, die ich kenne, da Männer und Frauen durch einen Konsens ihre verschlossenen Herzen freimütig zu öffnen scheinen und die Leute unter ihnen so sehen, als wären sie tatsächlich Mitreisende zum Grab und nicht eine andere Rasse von Geschöpfen, die auf anderen Reisen unterwegs sind. […]‘ „

(Charles Dickens: „Der Weihnachtsabend“, übersetzt von Eike Schönfeld, Insel Verlag 2014, S. 15)