Haus der Geister_John BoyneDürfte ich meine Bücherregale nur noch mit den Werken eines einzigen Autors ausstatten, so würde meine Wahl ohne zu zögern auf John Boyne fallen. Denn der irische Autor schreibt die unterschiedlichsten Texte – von der Kurzgeschichte zum 500-Seiten-Wälzer, vom Kinderbuch zum Erwachsenenroman, von Abenteuergeschichten über Phantastik und Historisches bis hin zu Spukgeschichten wie dem just bei Piper erschienenen „Haus der Geister“ – und jedes Mal kann er gänzlich überzeugen. Seien wir ehrlich: Von wie vielen Schriftstellern kann man das ebenfalls behaupten? Für mich ist John Boyne daher so etwas wie ein schreibender Gott und ein Leseleben ohne seine Bücher erscheint mir undenkbar. Es sind dabei nicht nur die Themen, mit denen der Autor immer wieder aufs Neue mein Herz gewinnt, sondern auch der lebendige, atmosphärische Schreibstil, der das Kopfkino auf Hochtouren laufen lässt, und nicht zuletzt die Hauptcharaktere, die oftmals Außenseiter sind.

Auch Eliza Caine, die Protagonistin in „Haus der Geister“, gehört nicht zu jenen Menschen, die viel Gesellschaft genießen. Mit Ausnahme ihres Vaters gibt es niemanden, dem sie sonderlich viel bedeutet. Als der geliebte Vater kurz nach dem Besuch einer Lesung Charles Dickens‘ verstirbt, steht die junge Frau daher völlig allein da: Sie hat weder lebende Verwandte noch einen Mann oder Freunde.

„Ich mache Charles Dickens für den Tod meines Vaters verantwortlich.“
(erster Satz in „Haus der Geister“, S. 7)

Mit dem Tod des Vaters fängt Elizas Geschichte jedoch erst an. Als sie eine Anzeige für eine Anstellung als Gouvernante in dem alten Herrenhaus Gaudlin Hall in der englischen Grafschaft Norfolk entdeckt, bewirbt sie sich kurzerhand. Keine Woche später verlässt sie ihre Heimatstadt London und tritt ihre neue Position an.

Doch von Anfang an ist ihre Zeit in Norfolk von Merkwürdigkeiten geprägt: Nebel und stürmischer Wind tauchen immer wieder urplötzlich auf und verschwinden ebenso abrupt, Eliza wird geschubst und festgehalten, obwohl keine Menschenseele zu sehen ist, Fenster und Türen lassen sich nicht öffnen und im nahegelegenen Dorf reagieren die Menschen abweisend, sobald sie erfahren, dass Eliza in Gaudlin Hall arbeitet. Mindestens ebenso sonderbar ist, dass Eliza in dem Herrenhaus immer nur die beiden Kinder Eustace und Isabella zu Gesicht bekommt – von ihren Eltern fehlt jede Spur, ebenso von anderen Angestellten. Doch sobald Eliza die Kinder oder die Bewohner des Dorfes darauf anspricht, erhält sie entweder ausweichende Antworten oder solche, die sie lediglich noch mehr verwirren und weitere Fragen aufwerfen. Nur langsam und auf unerbittliches Nachforschen offenbart sich der jungen Frau das Geheimnis, welches das alte Herrenhaus umgibt. Beruhigt schlafen kann Eliza dadurch dennoch nicht, denn es gibt jemanden in Gaudlin Hall, dem die Gouvernante ein Dorn im Auge ist und der danach sinnt, ihr Leben auszulöschen.

„Haus der Geister“ ist – wie der Titel schon verspricht – eine klassische Geistergeschichte. Inwiefern man sich dabei jedoch gruselt, hängt wohl von den eigenen Erwartungen ab, denn hier kommt der Spuk nicht mit dem Holzhammer und vor Blut triefend, es gibt keine rasante Action, die den Leser kaum zu Atem kommen lässt. Stattdessen bedient sich John Boyne eines leiseren Grusels, ähnlich jenem, den man von Poe, Dickens und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts kennt – jener Zeit also, in der auch die Handlung des Romans angesiedelt ist. Leser, die auf blutiges Grauen und Schrecken am Fließband aus sind, sind mit „Haus der Geister“ falsch bedient. Wer sich jedoch auf eine Zeitreise ins England des 19. Jahrhunderts machen möchte, gerne Stück für Stück Geheimnissen auf die Spur kommt und für wen die Charaktere eines Buches nicht nur die Handlung tragende Wesen sind, sondern Freunde auf einem gemeinsamen Leseweg, für den wird sich „Haus der Geister“ als ideale Lektüre erweisen. Eine besondere – wenn nicht gar die größte – Stärke des Romans liegt in seiner atmosphärischen Dichte. Während man Elizas Geschichte liest, erwacht das England des 19. Jahrhunderts zum Leben: Man spürt auf jeder Seite die nasse, kalte Herbstluft; die dichten Nebel und dunklen Tage erwecken dabei ein Gefühl der Beklommenheit. Wenn dann, wie in meinem Fall, das „reale“ Wetter während der Lektüre binnen zweier Stunden von einem strahlend blauen Himmel zu düsterem Nebel umschlägt, scheint es gar, als würden die Geister von Gaudlin Hall in die Welt des Lesers überwandeln, um dort ihr Unwesen zu treiben.

Fazit:

Wie erwartet konnte mich John Boyne auch mit „Haus der Geister“ in seinen Bann ziehen – er fesselte mich mit dem besten ersten Satz, den ich in diesem Jahr las und als die letzte Seite umgeblättert war, wollte ich diese Fesseln nicht mehr loswerden, sondern mich am liebsten sofort an eines seiner weiteren Bücher binden. Daher sei an dieser Stelle ein längst überfälliges, riesiges Dankeschön an John Boyne ausgesprochen für all die wunderbaren Geschichten, die mir immer wieder unvergessliche Lesestunden beschert und sich ewig in mein Leserherz eingebrannt haben. Ohne sie würde meinen Bücherregalen ein gewaltiges Stück Seele fehlen.

John Boyne: „Haus der Geister“, aus dem Englischen übersetzt von Sonja Finck, Piper 2014, ISBN: 978-3-492-06004-2