Nach dem Meisterwerk „Story of Your Life“ schloss sich das Religion und Wissenschaft vereinende „Seventy-Two Letters“ an. Greift Ted Chiang in dieser Geschichte zunächst die jüdische Golem-Legende auf, spinnt er anschließend den Gedanken weiter, was wäre, wenn sich Golems derart weiterentwickeln ließen, dass sie eines Tages nicht nur als effiziente Arbeitskräfte eingesetzt werden könnten, sondern auch in der Lage wären, sich selbst zu reproduzieren.
Alles in allem hat Chiang hier spannende Fragen aufgeworfen und die Kombination aus Religion und Wissenschaft ist ihm durchaus gut gelungen. Dennoch konnte mich „Seventy-Two Letters“ nicht begeistern: Der Erzählstil war mir zu langatmig; die für mich wirklich spannenden Punkte wurden für meinen Geschmack zu kurz angerissen, wohingegen anderes – insbesondere die abstrakteren, weniger alltäglichen und nicht zwingend handlungsleitenden Aspekte – zu ausschweifend geschildert wurden. Miss Booleana fand „Seventy-Two Letters“ hingegen genial. Wie sehr die Story fesselt und überzeugt, hängt daher nicht zuletzt davon ab, was man erwartet, was man in ihr sucht und welche inhaltlichen Schwerpunkte den jeweiligen Leser stärker interessieren.
Ein sehr spannendes Gedankenexperiment, das vor dem Hintergrund von KI plötzlich erstaunliche Aktualität erhält und gar nicht mehr so sehr nach Science Fiction klingt. Aufgrund des Artikel-Formats war „The Evolution of Human Science“ allerdings extrem kurz, sodass ich angefixt und zugleich auch irritiert zurückblieb. Ich habe mich irgendwie „fallen gelassen“ gefühlt, denn das Thema hat viel Potenzial. Wenn ich an Chiangs Kurzgeschichte „Understand“ zurückdenke, wären zwischen beiden Texten auch interessante Parallelen und Verknüpfungen möglich gewesen, die vermutlich sogar eine Menge Stoff für einen dystopischen Roman ergeben hätten.
Nach dieser wissenschaftlichen Vision holt uns Ted Chiang zurück in eine erneut religiös geprägte Welt. „Hell is the Absence of God“ scheint sich zunächst in der uns vertrauten Welt zu bewegen. Doch schnell zeigt sich: Erscheinungen von Engeln, Himmel und Hölle sind real und vollkommen normal. Die Charaktere sind Suchende, machen Fehler, voller Zweifel und haben jeweils ihre eigene Last zu tragen. Nicht ganz unschuldig an ihren Nöten und ihren offenen Fragen ist Gott, der seine Engel regelmäßig die Erde heimsuchen lässt, wobei diese Besuche für manche Menschen zu einem Segen werden, andere jedoch um ihr Leben oder das von geliebten Menschen beraubt. Es ist ein wenig, als wären alle Menschen nur Figuren auf einem überdimensionalen „Mensch-Ärgere-Dich-Nicht“-Spielbrett – und je nach Laune kickt Gott dich entweder ins Aus oder lässt dich im Leben weiterkommen.
Mir persönlich war das aber zu wenig. „Hell is the Absence of God“ hielt für mich nichts wirklich Neues bereit und war mir an vielen Punkten zu vorhersehbar. Letztlich habe ich aus dieser Geschichte absolut gar nichts für mich mitgenommen, auch wenn ich Ansatz des willkürlichen Gottes, der kein Erbarmen gegenüber den Menschen zeigt, ganz erfrischend fand.
Was für den ein oder anderen positiv klingen mag, ist aber natürlich alles andere als unbedenklich. Denn es ist wie mit der Bewahrpädagogik: Wird hier wirklich zum Wohle des (heranwachsenden) Menschen gehandelt oder beraubt man hier die Menschen nicht um ihre Mündigkeit und um wichtige Lernprozesse? Das Ausblenden kritischer Aspekte im Leben ist ein einfacher Weg, aber sollten wir uns stattdessen nicht darum bemühen, Kindern die richtigen Werte zu vermitteln, auch wenn das ein langwieriger und komplexerer Prozess ist?
Auch wenn nicht jede Erzählung in „Stories of Your Life and Others“ jeden Leser gleichermaßen begeistern wird, ist die Kurzgeschichtensammlung doch ein Meisterwerk der Science Fiction. Ted Chiang wagt Gedankenexperimente, die auf den ersten Blick weit weg von unserer Lebenswelt erscheinen mögen, aber doch näher an unserer Realität sind als erwartet. Die Geschichten sind klug geschrieben und erzählt, urteilen nicht und lassen Raum zur eigenen Interpretation und gedanklichen Fortsetzung des Geschilderten. Wie kaum ein anderer schafft es Chiang dabei, auf engstem Raum komplexe Geschichten zu erzählen und visionäre Szenarien zu erschaffen, die stets Stoff für einen abendfüllen Film bergen. „Stories of Your Life and Others“ hat daher durchaus das Potenzial, eines Tages zu einem solchen Klassiker der Science Fiction zu werden wie die Werke Jules Vernes oder H. G. Wells‘.
Alle bisherigen Beiträge zum Leseprojekt:
- Ankündigung bei Phantásienreisen
- Ankündigung bei Miss Booleana
- Erstes Zwischenfazit bei Miss Booleana
- Erster Zwischenbericht bei Phantásienreisen
- Erster Zwischenbericht bei voidpointer
- Zweites Zwischenfazit bei Miss Booleana
- Zweiter Zwischenbericht bei Phantásienreisen
- Zweiter Zwischenbericht bei voidpointer
- Meinung zum dritten Teil und Gesamtfazit bei Miss Booleana
- Dritter Zwischenbericht und Fazit bei voidpointer
- Rezension auf Binge Reading & More
Alle Eindrücke und Gespräche zu „Stories of Your Life and Others“ könnt ihr auf Twitter via #StoriesofChiang nachlesen.
Sehr schöner Bericht, ich werde auch noch, muss nur noch eben eine Erkältung mit samt Erschöpfung abwerfen und dann werde ich meine 2 cents auch mal dazugeben 🙂 Ganz liebe Grüße …
Oh, ich bin sehr gespannt auf deinen Bericht, vor allem, da du ja mehr oder weniger am Stück gelesen hast (das hätte ich gar nicht gekonnt – mein Hirn brauchte spätestens nach zwei Geschichten eine Pause ;) ). Hast du „Seventy-Two Letters“ noch einmal gelesen?
Habe das Buch auch auf meine Wunschliste gesetzt :-)
Oh, klasse! Ich freu mich, dass wir dich neugierig machen konnten! Ich bin gespannt, was die Geschichten bei dir auslösen werden.
Schade, dass dich die Geschichten nicht so abholen konnten wie „Story of your Life“ – aber sie messen sich eben auch mit einer wahnsinnig guten Geschichte. Wenn man den Gipfel erreicht hat, kommt zwangsläufig der Abstieg. Mich haben sie auch nicht ganz so abgeholt wie die vorhergehenden Geschichte. Bei der superkurzen Geschichte Evol. of Human Sciences erging es uns ja ähnlich ;) Das war einfach zu kurz um das Kopfkino anzuschalten. Obwohl er ja komplexe Geschichten auf wenigen Seiten erzählen kann.
Aber 72 Letters fand ich wirklich klasse. Selten habe ich so ein Kopfkino gehabt und selten hat jemand Fantasy, Wissenschaft und Religion so miteinander verbunden – aber wie du schon sagst: es kommt auch drauf an, was man erwartet und sich wünscht. Ich bin ja nur ein zeitweiser Fantasy-Leser und irgendwie hat er mir was gegeben, was ich sonst bei Fantasy etwas vermisse.
Liegt das „Wahre Wesen der Dinge“ bei dir auch noch rum? ;)
Ja, meine Erwartungen waren dann sicher irgendwann zu hoch – die Geschichten selbst sind ja durchaus gut, waren dann aber nicht ganz das Passende für mich und gemessen an den vorangehenden Geschichten einfach nicht so „rund“. Mit der fiktiven Dokumentation am Ende hat Chiang mich aber noch einmal so richtig gebannt … vielleicht liegt es daran, dass ich das Thema auch durch berufliche und private Interessen so gut nachvollziehen kann und diverse Berührungspunkte hab, aber es hat unabhängig davon eben auch viele Punkte aufgegriffen, die unsere Gesellschaft ja immer wieder aufs Neue bewegen (Kontrolle, Lookism, Sexismus …).
„Das Wahre Wesen der Dinge“ habe ich leider noch nicht, dem Kauf stünde aber nichts im Wege. Allerdings brauche ich nach dieser Dosis Chiang erst einmal etwas mit weniger Technik und Wissenschaft. Aber fürs Jahresende können wir uns das gerne mal im Hinterkopf behalten. :)