Willy Brandt_Graphic Novel100 Jahre wäre Willy Brandt in diesem Jahr geworden. Passend zu diesem Anlass veröffentlichte der Knesebeck Verlag just eine grafische Biografie des ehemaligen SPD-Politikers. Auf rund 100 Seiten halten Illustratorin Ingrid Sabisch und Autor Heiner Lünstedt in „Willy Brandt“ das Leben des ehemaligen Bundeskanzlers fest. Dabei finden Sabisch und Lünstedt ein gutes Gleichgewicht zwischen Brandt  dem Politiker und Brandt der Privatperson. Wir erleben die ersten politischen Aktivitäten des jugendlichen Herbert Frahm, der sich in den 1930er Jahren in „Willy Brandt“ umbenannte, sowie die Zeit in Norwegen und Spanien. Wir begleiten ihn in seiner journalistischen Laufbahn, bei seiner Rückkehr in die Heimat nach Ende des Krieges und in seinen Bemühungen für ein geeintes Deutschland. Und wir lernen Willy Brandt als Menschen kennen, wobei ein besonderer Fokus auf seine diversen Affären gelegt und der Sozialdemokrat so auch als fehlbare Person gezeigt wird.

Die rund 100 Seiten der Graphic Novel scheinen eigentlich zu wenig, um das ereignisreiche Leben eines der bedeutendsten deutschen Politiker festzuhalten – und doch ist Ingrid Sabisch und Heiner Lünstedt dies gut gelungen. „Willy Brandt“ ist aber vor allem ein gekonntes Portrait von Brandts Charakter und Idealen. Am Ende kommt man nicht umhin, sich zu fragen, warum es den meisten Geschichts- und Sozialkundelehrern nicht glückt, ihren Schülern ein derart interessantes Leben, einen solchen Ausnahmepolitiker nahezubringen. Stattdessen ist Brandt gerade für Jüngere nichts weiter als ein Name in einer Liste ehemaliger Bundeskanzler, die es für irgendeinen Test auswendig zu lernen gilt/ galt. Ich selbst schließe mich dabei nicht vollkommen aus – auch meine Kenntnisse über Brandt beschränkten sich – zugespitzt gesagt – auf sein ehemaliges Amt als Bundeskanzler, seine Parteizugehörigkeit und sein Engagement um ein geeintes Deutschland. Würde die Vermittlung (historischer) politischer Stoffe in Schulen auch nur ansatzweise so erfolgen, wie dies in Sabischs und Lünstedts Graphic Novel der Fall ist, wäre das politische Interesse wohl leichter zu wecken und vermutlich auch größere, nachhaltigere Lerneffekte zu erzielen.

Völlig uneingeschränkt lässt sich die grafische Biografie jedoch nicht empfehlen: Viele Ereignisse und Lebensabschnitte können nur in „geraffter“ Form geschildert werden, da die Graphic Novel andernfalls wohl die fünffache Seitenzahl umfassen würde. Das führt jedoch dazu, dass nicht selten Informationen fehlen, um bestimmte Ereignisse gänzlich zu verstehen. Etliches wird zwar in den Personenbeschreibungen am Ende des Buches erläutert, doch ist es nicht gerade toll, die eigentliche Lektüre immer wieder zu unterbrechen, um in den Kurzbiografien von Brandts Wegbegleitern nachzusehen. Zudem kommt jemand, der sich weder mit Brandt noch mit den unzähligen politischen Ereignissen des letzten Jahrhunderts näher auskennt, nicht herum, das ein oder andere doch noch auf eigene Faust zu recherchieren. Auf Dauer kann das stören, weil die Informationssuche den Leser jedes Mal aus seinem Lesefluss herauszieht. Manchen Szenen hätten daher ein, zwei weitere, veranschaulichende Panels oder ein paar kurze, erklärende Fußnoten gut getan. Des Weiteren hätte ich es begrüßt, wenn häufiger ein konkreter Fokus gesetzt worden wäre, anstatt alle bedeutenden Ereignisse und Personen einzubauen, die dann jedoch nur kurz angerissen werden. So der Fall bei Susanne Sievers, mit der Brandt eine Affäre hatte. Zwar wird im Personenverzeichnis erläutert, dass sie für die Stasi arbeitete, acht Jahre in Haft verbrachte und 1961 ein Buch veröffentlichte, das für Brandt alles andere als von Vorteil war. In der grafischen Erzählung wird jedoch nur kurz auf ihr Verhältnis mit Brandt eingegangen und zuletzt sieht man sie, Informationen an ihre Stasi-Kollegen weiterreichen. Doch welche Rolle Sievers danach in Willy Brandts Leben einnahm und wie sich ihr Brandt verunglimpfendes Buch auf den Wahlkampf ’61 auswirkte, wird nicht thematisiert und Sievers taucht kein weiteres Mal mehr auf. Hier wäre es besser gewesen, ihre Bedeutung entweder noch weiter zu beleuchten oder gänzlich darauf zu verzichten, Sievers in der Graphic Novel zu integrieren. So wirkt das Ganze jedoch irgendwie halbfertig.

Zudem hätte ich mir etwas mehr Genauigkeit bei der Abbildung der Personen gewünscht. Einerseits sind manche (vor allem Frauen) zu ähnlich dargestellt, sodass bei größeren Zeit- oder Ortssprüngen nicht immer sofort klar ist, wer tatsächlich abgebildet ist, was stellenweise sehr verwirrt. Andererseits mangelt es bei manchen Personendarstellungen an Kontinuität. Dies gilt besonders für die Illustration von Ernst Reuter auf den Seiten 49 und 50: Auf Seite 49 sehen wir Reuter in einem hellbraunen, fast beigefarbenen Anzug mit braun gestreifter Krawatte. Neben ihm läuft Brandt in einem dunkelblauen Anzug. Im letzten Bild der Seite werden die beiden darüber informiert, dass ein gewisser General Clay in seinem Büro auf Reuter wartet. Auf Seite 50 haben sich Brandt und Reuter ebendort eingefunden. Doch obwohl es sich um den gleichen Zeitpunkt handelt, sehen Reuter und Brandt anders aus: Plötzlich trägt Willy Brandt einen dunkelbraunen Anzug und auch Reuter ist auf einmal in einen dunkelbraunen Anzug und blaue Krawatte gekleidet! Doch nicht nur die Kleidung ändert sich in Sekundenschnelle, auch Ernst Reuters Haare wandeln sich – hat er in einem Bild noch Geheimratsecken, sind diese im nächsten Bild nicht mehr vorhanden und er trägt einen klassischen Seitenscheitel. Auch seine Gesichtszüge und Hautfarbe variieren auf den Seiten 49 und 50 deutlich. Solche Ungenauigkeiten sind ärgerlich.

Ein weiterer, ebenfalls großer Kritikpunkt sind die diversen Fehler, die sich in die Graphic Novel eingeschlichen haben und von denen ich einige kurz anführen möchte:

  • Seite 42: Willy Brandt schreibt an seine Frau Rut. Wir sehen Willy Brandt im Oktober 1945 am Flughafen Bremen und können seinem Brief entnehmen, dass er in diesem Moment erstmals seit 1936 deutschen Boden betritt. Kurz darauf schreibt Brandt jedoch, dass er im September 1945 in Lübeck war. Doch wie konnte Brandt bereits im September 1945 in Lübeck sein, wenn er doch erst einen Monat später zurück nach Deutschland kam?!
  • Seite 61: Willy Brandt fährt durch New York und wird von den Bewohnern der Stadt mit einer Konfettiparade empfangen. Die Bildunterschrift datiert diesen Moment auf das Jahr 1955. Tatsächlich ereignete sich dieser Moment aber erst 1959!
  • Seite 67: Am Flughafen Berlin Tegel begrüßt Willy Brandt den US-Präsidenten – in Englisch. Doch ist „Welcome“ mit einem „V“ statt „W“ geschrieben und aus „Mr. President“ wurde „Mr. Präsident“.
  • Seite 88: Im ersten Bild des untersten Panels fehlt gleich mal ein Teil des Satzes – damit ein wirklicher Satz entstünde, müsste in der Sprechblase eigentlich noch ein „Ich werde mich“ stehen.

Sicher, das ein oder andere mögen Tippfehler sein, doch manche Fehler sind einfach zu groß, als dass man über diese getrost hinwegsehen könnte.

Doch trotz der diversen angebrachten Kritikpunkte soll hier kein negativer Eindruck von der Graphic Novel vermittelt werden, denn die Erzählweise und die optische Umsetzung sind an sich wirklich gut. Gerade für jene, die mit Willy Brandts Leben noch gar nicht oder nur wenig vertraut sind, ist die grafische Biografie keine schlechte Wahl. Wer sich jedoch sehr an den oben aufgeführten Tipp-, Logik- und Kontinuitätsfehlern stört, der sollte vielleicht auf die zweite Auflage der Graphic Novel warten und hoffen, dass diese Fehler bis dahin korrigiert werden.

Fazit:

Ingrid Sabisch und Heiner Lünstedt ist es in ihrer grafischen Biografie „Willy Brandt“ mehr als gut gelungen, das Leben, die Ideale und das Wesen des vor 11 Jahren verstorbenen Politikers optisch und erzählerisch interessant festzuhalten und die Bedeutung des früheren Bundeskanzlers auf Neugier weckende Weise zu vermitteln. Ungenauigkeiten und Kontinuitätsfehler bei manchen Personendarstellungen sowie etliche textliche Fehler stören jedoch allzu häufig das ansonsten so positive Leseerlebnis.