Als ich Tatiana de Rosnays aktuellsten Roman „Das Haus der Madame Rose“ begann, befand ich mich gerade auf dem Weg nach Köln. Während Lars mich über diverse Autobahnen hinweg chauffierte, versank ich bereits nach wenigen Zeilen in der verzaubernden Atmosphäre des Buches. Zurück in Erfurt tat ich dann etwas, das ich noch nie zuvor tat: Ich legte eine zweiwöchige Pause ein und las stattdessen in einem anderen Buch weiter – normalerweise ist dies nur der Fall, wenn mir wirklich der Sinn nach einer anderen Lektüre statt der aktuellen steht. Doch dies traf auf „Das Haus der Madame Rose“ nicht im Entferntesten zu! Ich wollte es ja lesen – mehr als irgendein anderes Buch während der letzten Wochen. Und ich habe mich auch regelrecht in Tatiana de Rosnays Roman verliebt. Dennoch musste ich diesen freiwilligen Entzug machen, denn die Geschichte zog mich so in ihren Bann und war doch keine 300 Seiten lang – da wollte ich einfach nicht, dass das Buch schon nach drei, vier Tagen ausgelesen ist, so schnell konnte ich sie einfach nicht enden lassen, diese fabelhafte Geschichte, viel länger sollte sie auf mich einwirken!

Dabei hätte ich diesen intensiven Eindruck des Romans auf mich anfangs nicht für möglich gehalten. Im Gegenteil: Als de Rosnays Buch während des Bücherbrunchs im November vorgestellt wurde, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Geschichte über die Witwe Rose Bazelet, deren Haus abgerissen werden soll, gut sein könnte. Nicht nachvollziehbar schien es mir, dass jemandem ein Haus so wichtig sein könne, dass derjenige dafür sein Leben geben würde. Eine typische Bestsellerthematik ist dies jedenfalls nicht. Doch als ich während des Brunchs mehr über den Roman erfuhr, wollte ich ihn einfach nur noch lesen. Dass mich Tatiana de Rosnays „Sarahs Schlüssel“ vor wenigen Jahren sehr berührte und überzeugte, lies mich sicher sein, dass es sich auch bei „Das Haus der Madame Rose“ nicht um einen Fehlkauf handeln würde.

Heute habe ich die Geschichte nun wirklich beendet. Leider. Dass hinter einer Abriss-Thematik so viel Potential stecken könnte, hätte ich – wie erwähnt – nicht für möglich gehalten. Doch die französische Autorin schafft es, den Leser schon nach wenigen Sätzen in Roses Paris zu entführen. Mitte des 19. Jahrhunderts findet dort die wohl größte Stadtmodernisierung statt: All die kleinen, verwinkelten und gemütlichen Gassen, in denen Nachbarn einander noch nah sind, verwandeln sich unter der Feder des Kaisers und seines Präfekten in breite, gerade, endlos lange, protzige Boulevards voller Anonymität. Ganze Stadtviertel werden in rasanter Geschwindigkeit dem Erdboden gleichgemacht, um Paris‘ Geografie der Londons anzugleichen. Menschen werden ihrer Häuser beraubt. Rose Bazelet fühlt sich zunächst sicher in ihrer Straße – zu nah sind sie der Kirche, die die Bauverantwortlichen doch nie anrühren würde. Oder etwa doch?

Schon bald wird die Unerbittlichkeit des verantwortlichen Präfekten deutlich und all die Straßen, in denen Rose und ihre verstorbener Mann Armand ihr ganzes Leben verbrachten, sind dem Untergang geweiht. Verschwinden soll die Rue d’Erfurth, in der Rose aufwuchs, ebenso wie die Rue Childebert, in der sie und ihr geliebter Armand nach der Hochzeit zuhause sind. Die Straßen, in denen sie als Kinder spielten, der Brunnen, an dem ihr Sohn Baptiste sich so gern aufhielt – nichts soll bestehen bleiben.

„Keiner wird sich mehr an die Rue Childebert erinnern, an die Rue d’Erfurth, die Rue Sainte-Mathe. Keiner wird sich an das Paris erinnern, das Du und ich so liebten.“

(Tatiana de Rosnay: „Das Haus der Madame Rose“, Seite 86)

Dass das Viertel für seine Bewohner  nicht nur Wohnort war, sondern von unschätzbarem immateriellen Wert, können die bürokratischen Drahtzieher der Modernisierungsmaßnahme nicht verstehen: Rose und Armand Bazelets Haus wurde 150 Jahre zuvor von Armands Vorfahren erbaut und befand sich seither nur im Besitz der Bazelets. Armand wuchs hier ebenso auf wie sein Vater und Großvater, später gründeten er und Rose hier ihre eigene Familie.

„Wenn Wände sprechen könnten, hätten sie wohl viele Geschichten zu erzählen … Sie wurden Zeugen von neuem Leben und Tod.“

(Tatiana de Rosnay: „Das Haus der Madame Rose“, Seite 77)

Nun soll also ihr Zuhause, ihre Geschichte ausgelöscht werden. Für Armand bedeutete sein Elternhaus stets sehr viel und als er verstarb, versprach Rose, sein Haus zu schützen. Nun, im  Jahre 1869, muss sich Rose dieser Probe stellen und ist bereit, ihr Leben für das Erbe der Bazelets zu geben. Im Keller des Hauses lebt sie fortan zurückgezogen und schreibt ihrem verstorbenen Gatten Briefe. In diesen erinnert sie sich der ersten Verliebtheit zwischen ihr und Armand, der gemeinsamen Ehejahre, ihrer Kindheit und ihrer eigenen Kinder. Jene glücklichen und schmerzhaften Jahre lässt sie neu aufleben, verarbeitet so den Verlust ihres Mannes, ihres geliebten Sonnes und des Paris‘, das sie einst kannte. Sie gesteht sich ihrer Fehler ein und beichtet Armand schließlich ein lang gehütetes Geheimnis. Dem Leser offenbart sich dabei eine schonungslos offene und gebrochene, doch auch glückliche Frau, mit der man schon nach kürzester Zeit mitfühlt. Dabei bedient sich Tatiana de Rosnay eines sehr gefühlsbetonten, jedoch nie aufdringlich sentimentalen Stils, der so ganz anders – ja, ich möchte fast sagen: besser – ist als in „Sarahs Schlüssel“. Versteht mich nicht falsch: „Sarahs Schlüssel“ ist wohl einer der besten Romane über den Holocaust, die ich je gelesen habe, und er hat mich schockiert, berührt, wirkt sogar noch heute nach. Doch in „Das Haus der Madame Rose“ findet sich ein ganz anderer, sehr bildlicher Erzähstil – im Fokus stehen weniger die Geschehnisse, vielmehr wird Rose als Mensch in den Mittelpunkt gerückt, ihr Leben und Paris portraitiert. Tatiana de Rosnay erzählt hier nicht nur eine Geschichte, sie schreibt regelrecht Augenblicke. Augenblicke, in denen man sich verliert, in denen man aus Zeit und Raum gerissen wird und nicht mehr auftauchen mag. Ganz so wie es Rose selbst erging, als sie – erst in hohem Alter – ihr erstes Buch las und in Leidenschaft für Poe, Zola und Flaubert entbrann.

Neben der Geschichte und de Rosnays verzaubernder Erzählweise in Briefform überzeugt der Roman auch optisch: Das Cover kommt schlicht und dabei doch elegant, wunderschön und qualitativ hochwertig daher. Ein Stil, der sich auch innen im Schriftsatz fortsetzt: Schlichte, dezente, kleine Serifenschrift, die scheint, als käme sie selbst aus dem edlen 19. Jahrhundert – passend zum ruhigen Ton der Geschichte, mit dem richtigen Maß an Freiraum.

Fazit:

„Das Haus der Madame Rose“ unterscheidet sich thematisch und stilistisch stark von Tatiana de Rosnays Bestseller „Sarahs Schlüssel“, ist dabei aber mindestens genauso bewegend. Von der ersten Seite an wird der Leser so gepackt, dass man einfach weiterlesen und nicht mehr damit aufhören möchte. Man sinkt hinein in Roses Welt, während um einen herum die Zeit still zu stehen scheint.

Ein Buch für alle, denen Liebe und Verlust nicht fremd sind, die sich jemals in eine Stadt verliebt haben und für die Zuhause mehr ist als nur ein Ort.