Es ist Sonntag, der 14. Februar 2016, kurz vor 11. Ich sitze im Saal unseres Lippstädter Rathauses, der sich zunehmend füllt – so sehr, dass die Veranstalter, der Kunst- und Vortragsring Lippstadt und der Deutsch-Japanische Verein Yawara Lippstadt e.V., die Anzahl der Stühle im Saal verdoppeln muss. Am Ende sitzen rund 100 Leute im Publikum; gekommen um den Kurzgeschichten Haruki Murakamis zu lauschen. Ich freue mich, dass Literatur so viele Menschen an einem trüben Sonntagvormittag zusammenbringt, bin jedoch negativ überrascht über den Altersdurchschnitt: Nur etwa ein Dutzend der Zuhörerschaft ist unter 40 und ich mit meinen 29 Jahren scheine die Jüngste zu sein, komme mir plötzlich kükenhaft, fast schon exotisch vor. Angesichts dessen muss man sich nicht wundern, dass in der Gesellschaft das Bild der lesefaulen, kulturell wenig interessierten jungen Menschen entstanden ist. Doch was soll’s – ich bin nicht hier, um über Leser und Nichtleser zu sinnieren, sondern um Murakamis Geschichten zu lauschen, vorgetragen von Ryo Takeda.

Takeda, Mitglied in Cluesos Künstlernetzwerk Zughafen, ist ein kleiner Allrounder: Er singt, moderiert, arbeitet als Sprecher für TV-Spots, Filme, Audioguides und Podcasts und liest eben aus Murakamis Kurzgeschichtensammlungen vor. Letzteres tut er, wie er heute beweist, ganz großartig, auf eine unaufgeregte, bescheidene und doch wirkungsvolle Weise. Takeda inszeniert sich nicht während seiner Lesung, es gibt keine Monologe seinerseits über seinen Werdegang oder seine Referenzen, auch die Veranstalter verlieren nur zwei, drei kurze Sätze über den Halbjapaner. Stattdessen gehören die eineinhalb Stunden der Lesung ausschließlich dem gelesenen Wort Murakamis. Ich muss gestehen, ich habe – obwohl ich mittlerweile selber Lesungen organisiere – noch nie einer Lesung beigesessen, die so aufgebaut ist, aber es gefällt mir, wie bei Takeda nur die vorgetragenen Geschichten im Mittelpunkt stehen.

Ryo Takeda_Lippstadt 2016Ryo Takeda startet mit einer Geschichte, die der wohl beste Opener für eine Murakami-Lesung ist: „Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah“. Die (Nicht-)Liebesgeschichte ist ein Garant dafür, sofort die 100-prozentige Aufmerksamkeit sämtlicher Leser bzw. Hörer zu bekommen. Wobei Takeda die Aufmerksamkeit auch so sicher ist: Sieht man von den Schmunzlern und Lachern der Zuhörer während Takedas Lesung aus „Die Bäckereiüberfälle“ ab, könnte man stellenweise wahrlich die berühmte Stecknadel fallen hören, so gebannt lauschen wir alle unserem Vorleser. Ryo Takeda strahlt während seiner Lesung eine außergewöhnliche Ruhe aus, die sich schnell auf sein Publikum überträgt und wenn er auf seine leise, schlichte und doch bedeutungsschwangere Weise liest, schwingt selbst bei den amüsanten Textstellen immer etwas unterschwellig Ernstes und Melancholisches mit, als liege hinter jedem Satz noch eine weitere Textebene, die sich nicht in Worte fassen lässt. Zwischen den einzelnen Erzählungen stelle ich immer wieder fest, dass ich während des Zuhörens alles um mich herum ausgeblendet habe – da war immer nur das Kopfkino zur Geschichte und Takedas warme Stimme, die von den hohen Wänden des Ratshaussaals mit einem leichten Bass zurückgeworfen wird. Und das ist mir trotz unzähliger Lesungsbesuche und täglichem Hörbuchlauschens tatsächlich noch nie passiert.

Nach Veranstaltungsende bin ich überrascht, dass eineinhalb Stunden vergangen sind. Für mich fühlte es sich – trotz der fünf Erzählungen – eher wie 30 Minuten an und ich hätte Ryo Takeda nur zu gern noch länger zugehört. Es bleibt also zu hoffen, dass Verlage künftig nicht nur die bereits bekannten (Synchron-)Sprecher für Hörbücher engagieren, sondern wir unsere Hörbuchbibliotheken schon bald um Produktionen mit Ryo Takeda erweitern können.

Wer nun neugierig geworden ist, erfährt mehr über Ryo Takeda unter www.zughafen.de sowie unter www.ryotakeda.de. Ganz besonders ans Herz legen möchte ich euch an dieser Stelle aber auch das großartige Interview meines Bloggerkollegens Ilja auf Muromez.