Als ich erfuhr, dass das Theater der Altstadt in Stuttgart Robert Seethalers Roman “Der Trafikant” als Bühnenfassung aufführt, war klar, dass ich diese Inszenierung sehen muss. Mit den noch recht frischen Eindrücken aus der Leserunde war ich neugierig, die Geschichte in anderem Format neu zu entdecken. Außerdem war ich mir sicher: Dieser Roman eignet sich aufgrund seiner geringen Anzahl an Schauplätzen und Figuren hervorragend für eine Theaterinszenierung. Ganz zu schweigen davon, dass ich nach rund 3 Jahren ohne Musical oder Theater endlich wieder ein Bühnenstück erleben wollte. 

Der Mai-Abend im Theater der Altstadt hat sich dann auch wirklich gelohnt, obgleich mich nicht alles an der Adaption, die bereits 2016 in Salzburg uraufgeführt wurde, gänzlich überzeugte. Für mich, die den Roman erst kürzlich las, war es eine Freude, die Figuren zum Leben erweckt zu sehen und auf der Bühne prägnante Sätze des Romans wiederzufinden (z.B. Otto Trsnjeks Aussage: “keine Zeitungen zu lesen hieße ja auch, kein Trafikant zu sein, wenn nicht gar: kein Mensch zu sein”). Doch auch wer den Roman nicht gelesen hatte, konnte leicht Zugang zum Stück und seinen Figuren finden, Zusammenhänge und Angedeutetes verstehen, wie mir meine Theaterbegleitung versicherte.

Die Geschichte um Franz Huchel, der in den 1930ern aus einem behüteten Bergdorf nach Wien kommt, um in der Trafik von Otto Trsnjek zu arbeiten, dabei Freundschaft mit Sigmund Freund schließt, sich zum ersten Mal verliebt und mit der Brutalität des aufkeimenden Nationalsozialismus konfrontiert wird, ist in ein sehr reduziertes Bühnenbild eingebettet. Zentrales Element sind mehrere Pfeiler, die sich je nach Bedarf in Wände, Sitzbänke und mehr verwandeln. Das ermöglicht dem Stück viel Flexibilität. Aufgrund der vielen, viel zu kurzen Szenen lassen sich aber ständige Umbauten und Änderungen auf der Bühne dennoch nicht vermeiden. Mehr Zeit in den einzelnen Szenen hätte dem Stück deutlich weniger Hektik und noch mehr Raum für das Zwischenmenschliche, das Nicht-Sagbare gegeben.

Denn es sind vor allem die intimeren Momente zwischen jeweils zwei Figuren, die das Herz der Inszenierung darstellen. Wenn Franz (Chris Irslinger) und Sigmund Freud (Reinhard Froboess) trotz ihrer Alters- und Herkunftsunterschiede Freundschaft schließen und in ihren jeweils eigenen Worten über allgemeine und individuelle Probleme philosophieren, hat das eine Vertrautheit und Ruhe, der ich mich gern anschließen und von der ich mehr möchte. 

Herzerwärmend und wunderbar in Szene gesetzt ist auch die Beziehung zwischen Franz und seiner Mutter (Susanne Heydenreich) mitsamt ihrer Kommunikation über Postkarten. Im schriftlichen Dialog stehen Franz und seine Mutter gleichzeitig auf der Bühne und lesen jeweils die Grüße des anderen vor, während das Publikum im Hintergrund die Standard-Postkartenmotive präsentiert bekommt. Je mehr die Idylle der politischen Realität weichen muss und je mehr Franz sich mit den großen Fragen der Liebe, des Lebens und der Menschheit beschäftigt, desto seltener sehen wir die kitschigen Motive und desto mehr nähern sich Franz und seine Mutter persönlich wie räumlich einander an. Eine gelungene Adaption der enger und erwachsener werdenden Beziehung zwischen Mutter und Sohn, die wir im Buch allein auf Ebene der einander geschriebenen Worte verfolgen können. 

Deutlich besser als in der literarischen Vorlage gefiel mir das Verhältnis zwischen Franz und Anezka (Stefanie Friedrich). Das liegt zum einen daran, dass Stefanie Friedrich eine perfekte Anezka ist! Sie verkörpert Franz’ erste Liebe haargenau so, wie ich sie mir beim Lesen vorstellte, verleiht ihr aber gleichzeitig mehr Tiefe und macht ihr Handeln für mich glaubhafter und nachvollziehbarer, als es Robert Seethaler bei seiner Figurencharakterisierung im Roman gelang. Zum anderen bedingt die kürzere Erzählzeit eine dramaturgische Straffung auf die wichtigsten Etappen ihrer (Nicht-)Beziehung. Das lässt Franz dadurch deutlich früher und klarer erkennen, worin er sich verrannt hat und dass Anezka ihm kein Liebesglück beschert. Franz wirkt folglich in der Bühnenadaption deutlich reflektierter und erlebt einen schnelleren geistigen Reifeprozess. 

Leider erlebt man letztere Entwicklung vorrangig durch seine (Nicht-)Beziehung zu Anezka und die Briefe an seine Mutter. Den Einfluss, den die Trafik, Trafikant Otto Trsnjek und das Zeitunglesen auf Franz’ Entwicklung haben, kommt in der Bühnenfassung leider deutlich zu kurz. Beim Lesen von Seethalers Roman habe ich es geliebt, zu verfolgen, wie Franz sich zunächst schwer tut mit dem Lesen der Zeitungen, wie er nichts von Politik und Weltgeschehen weiß – und dann durch das unablässige Zeitungslesen nicht nur mehr erfährt und lernt, sondern auch seinen Wortschatz erweitert, Dinge hinterfragt, über die Welt sinniert, aus seiner behüteten Bergblase ausbricht und sich eigene politische Meinungen bildet. Diese Entwicklung stellt für mich ein wesentliches Element des Romans dar, das ich in der Theaterfassung entsprechend vermisst habe. 

Überhaupt spielen die im Roman so zentrale Trafik und der von Uwe-Peter Spinner hervorragend verkörperte Otto Trsnjek in der Bühnenfassung eine viel zu geringe Rolle. Dabei hätte sich gerade die Bühneninszenierung für die vielen kammerspielartigen Szenen in der Trafik perfekt angeboten. Stattdessen befinden wir uns auf der Bühne nur zu Beginn und im letzten Drittel wirklich mit Otto und Franz in der Trafik, verpassen so viel von der Figur Otto Trsnjeks, seinem Einfluss auf Franz und die Besonder- und Eigenheiten des Trafikantenlebens. 

Der Inszenierung hätte es demnach gutgetan, die Trafik mehr in das verdiente Rampenlicht zu rücken – und stattdessen auf ein paar der musikalischen Einlagen zu verzichten. Immer wieder, vor allem aber in der ersten Hälfte des Stücks, bilden österreichische Gesangseinlagen den Einstieg in eine Szene. An sich ein guter Ansatz. Mir schienen die Wahl der Lieder und der jeweiligen Momente jedoch als zu beliebig und ohne Mehrwert für die Geschichte. Dass die Darsteller während des Gesangs Pappmasken trugen, machte es für mich zudem zu absurd und fast schon lächerlich. Eine Reduktion auf einen musikalischen Rahmen bzw. roten Faden durch das alleinige Akkordeonspiel von Ulrich Schlumberger wäre passender und der Ernsthaftigkeit der Geschichte angemessener gewesen. 

Denn ja, auch wenn “Der Trafikant” eine Coming-of-Age-Story erzählt und der hormongesteuerte, anfangs sehr unbedarfte Franz alles auflockert, ist der Hintergrund, vor dem die Handlung stattfindet und der vor allem im zweiten Teil des Romans eine gravierende Rolle spielt, ein sehr ernster und alles andere als zum Lachen. Und gerade jetzt, in einer Zeit, in der wir in Europa so nah wie seit Jahrzehnten nicht mehr mit Krieg und Propaganda konfrontiert sind, sind die Epoche, in der “Der Trafikant” angesiedelt ist, und die darin aufgegriffenen Themen wie aufkeimender Nationalismus, Manipulation, Mord und Folter von Regimekritikern hochaktuell. 

Das Theater der Altstadt begann mit den Proben für “Der Trafikant” bereits vor 2 Jahren. Dann kam Corona und legte alles lahm. Nun wurde das Stück in wenigen Wochen durchgeprobt, um im April und Mai 2022 aufgeführt zu werden – in einem Jahr, in dem “Der Trafikant” nicht nur Oberstufenthema in Baden-Württemberg ist, sondern leider auch beängstigende Parallelen zwischen Franz’ und unserer Realität existieren. 

Fazit:

Für Kenner*innen des Romans hätte die Inszenierung an der ein oder anderen Stelle noch einiger Optimierungen bedarf. Nichtsdestotrotz ist die Bühnenfassung von “Der Trafikant” gelungen, hervorragend besetzt, hochaktuell – und verdient nach nur ca. zwei Aufführungsmonaten definitiv eine Wiederaufnahme.

“Der Trafikant”, Bühnenfassung nach dem gleichnamigen Roman von Robert Seethaler, gesehen am 19.05.2022 im Theater der Altstadt, Stuttgart

Regie: Gerhard Weber
Ausstattung: Thomas Mogendorf
Musikalische Leitung: Ulrich Schlumberger
Dramaturgie: Sandra Schumacher, Nathalie Veit
Regieassistenz: Dirk Helbig


Weitere Beiträge zur Leserunde:

Alle Eindrücke und Unterhaltungen zum gemeinsamen Lesen von „Der Trafikant“ findet ihr auf Twitter unter #FranzlUndSiggi.