Robert Seethaler gehört zu jenen Autor*innen, über deren Werke ich in den letzten Jahren nur Positives las. Im letzten Jahr nahm ich mir vor, endlich mal etwas von ihm zu lesen. Steffi ging es ähnlich. Als sie „Der Trafikant“ als einen ihrer Buchvorsätze für 2021 ankündigte, lies ich mich auf Anhieb für eine Leserunde gewinnen. Doch erst zum Jahresende sollte es so weit sein. Mit Sabine und Matthias fanden sich begeisterte Mitlesende und dann ging es ziemlich plötzlich: Binnen 48 Stunden ging es los und noch bevor mein Exemplar des Buches überhaupt eingetrudelt war, hatte Sabine die Lektüre schon beendet. Daran merkt ihr schon: Der Roman hat gefallen.

An „Der Trafikant“ ging ich ohne wirkliche Vorkenntnisse ran. Ich wusste nicht, wovon das Buch handelt und hatte keine Ahnung, was ein Trafikant überhaupt ist. Diese Wissenslücke wurde schnell gefüllt und inzwischen weiß ich, dass ein Trafikant der Betreiber einer Trafik ist – eines kleinen Zeitungs- und Tabakladens in Österreich, vergleichbar mit unseren Kiosken.

Wie Robert Seethaler über die Trafik schreibt und mit welcher Leidenschaft Trafikant Otto Trsnjek über seine Arbeit, das Zeitunglesen und (als Nichtraucher!) über Zigarren spricht, weckt Erinnerungen an die Kindheit, als Kioske, Zeitungen und Zeitschriften noch zu meinem Alltag gehörten. Und es weckt die Lust, sich einmal wieder mit Printmedien vom Kiosk einzudecken und stundenlang zu schmökern.

Doch während wir beim Lesen zurück auf Vergangenes schauen, mit einem sicherlich verklärten Blick, eröffnet sich für unseren Protagonisten Franz Huchel mit der Wiener Trafik eine neue Welt. Er, der bislang nahezu nichts gelesen hat, verbringt nun seine Tage mit der Lektüre von Zeitungen. Zu beobachten, wie das seine Rhetorik und sein Denken verändert, fand ich besonders interessant und ich hätte das gerne noch mehr zu spüren bekommen.

Auch der Umzug vom winzigen Bergdorf in die Großstadt Wien prägt den 17-Jährigen: Franz erlebt neue Freiheiten und Möglichkeiten, wird aber auch mit einem ungewohnten Lärm, Geruch, Gewusel, dem ersten Liebeskummer und mit dem zunehmenden Antisemitismus und der hochgefährlichen Politik der 1930er konfrontiert.

Ob Franz‘ nach über einem Jahr unveränderte Naivität in dieser Umgebung ein Fluch oder Segen ist, muss jede*r Lesende selbst entscheiden. Auch in unserer Leserunde kamen wir damit unterschiedlich gut zurecht. Während Steffi und Matthias sich nicht daran störten, hatten Sabine und ich ein wenig mit Franz‘ Art zu kämpfen. Es sind nicht nur Franz‘ Worte und Denkweisen, die ihn deutlich jünger wirken ließen, auch seine monatelange Unfähigkeit, zu erkennen, dass die von ihm regelrecht vergötterte Aneszka nur mit ihm spielt, strapazierte zunehmend meine Nerven.

Dass sich Franz mit seiner unbedachten Art mehrfach in teils lebensgefährliche Schwierigkeiten bringt und dennoch unbeschadet aus diesen hervorgeht, erschien mir zudem unglaubwürdig. Allerdings ist es auch seiner Unbedarftheit zu verdanken, dass er nicht der NS-Propaganda verfällt und seinen Mitmenschen ohne Vorurteile begegnet. Mit dieser erfrischend natürlichen, unschuldigen Art gewinnt er sogar den legendären Sigmund Freud als Mentor und Freund. Wie Seethaler Sigmund Freud in „Der Trafikant“ porträtiert, hab ich sehr gerne gelesen. Er nimmt dem Professor das Steife, Ernste, zeigt ihn verletzlich, erschöpft von seinem Leben und der Welt um sich herum, aber dennoch nicht verbittert. Wie nahe das am wahren Wesen Freuds ist, vermag ich nicht zu bewerten, mir hat es jedoch einen neuen, anderen Blick auf den Psychologen ermöglicht.

Sehr gern verfolgt habe ich auch das Verhältnis zwischen Franz und seiner Mutter, das durch die Entfernung, Franz‘ Erwachsenwerden, seine zunehmende Belesenheit und seine Erfahrungen immer enger und herzlicher wird. Das Distanzierte, Oberflächliche weicht tiefgehenden Gesprächen, die irgendwann zu lang und persönlich für Postkarten werden.

Robert Seethalers gelingt es im Roman immer wieder, Unschuldiges auf Bedrohliches, Alltägliches und Privates auf Gesamtgesellschaftliches treffen zu lassen. Kontraste, die die Komplexität einer Jugend in einer Zeit fataler politischer Veränderungen aufzeigen und die der Autor sehr gekonnt ineinander verflicht.

Dabei ist Seethalers Schreibstil verhältnismäßig reduziert und schlicht, hat eine Leichtigkeit, die jedoch nie im Widerspruch zu dem ernsten Inhalt steht. Lediglich auf den ersten Seiten hatte ich meine Probleme mit Seethalers Schreibstil, der hier so stark schwankte, dass es mir schien, Texte zweier unterschiedlicher Personen zu lesen. Nach ein paar Seiten hatte sich das glücklicherweise ausbalanciert.

Fazit:

„Der Trafikant“ ist ein kurzweiliger Roman mit überraschender Vielschichtigkeit und voller Kontraste. Ein Buch, das ich gern gelesen habe, das mich aber nicht auf ganzer Linie überzeugte und für mich zu wenige dramaturgische Höhepunkte bereithielt.

Robert Seethaler: „Der Trafikant”, Kein & Aber 2018, ISBN: 978-3-0369-5909-2


Weitere Beiträge zur Leserunde:

Alle Eindrücke und Unterhaltungen zum gemeinsamen Lesen von „Der Trafikant“ findet ihr auf Twitter unter #FranzlUndSiggi.