Achtung Spoiler!
Dieser Beitrag enthält Hinweise auf entscheidende Ereignisse und Informationen aus „Arrival“ und „Story of Your Life“.
Die Lektüre von Ted Chiangs Erzählung „Story of Your Life“ war anfangs von gemischten Gefühlen begleitet: Einerseits zog mich Chiangs Text sofort in seinen Bann, andererseits fürchtete ich, die Geschichte nicht für sich allein stehend auf mich wirken lassen zu können.
Auf den ersten Seiten war jeder gelesene Satz von den visuellen Eindrücken der Verfilmung begleitet und ich fragte mich, ob ich „Story of Your Life“ anders aufnehmen würde als ohne Kenntnis von „Arrival“. Doch diese Sorge bewahrheitete sich nicht, denn je mehr ich von Chiangs Geschichte las, desto mehr trat die Verfilmung in den Hintergrund und machte neuen Bildern im Kopf Platz. Das lag nicht zuletzt auch daran, dass Chiangs Geschichte andere Schwerpunkte setzt als die Verfilmung. Zwar spielt in beiden Fällen die Kommunikation und das Erlernen der Sprache der Außerirdischen (Heptapoden) eine zentrale Rolle. In „Arrival“ wird dieser Prozess jedoch von den – vermeintlich präventiven – militärischen Interventionen und weltweiter Sorge um eine potenzielle Gefahr durch die Aliens begleitet. In „Story of Your Life“ hingegen bekommen wir von derartigen Entwicklungen wenig mit; das Militär ist zwar vor Ort und sorgt sich, dass die Aliens zu viel Wissen über die Menschen erlangen könnten, doch von einer empfundenen Bedrohung oder gar dem Worst Case – einem Krieg der Welten – ist nichts zu spüren. Stattdessen begleiten wir Linguistin Louise Banks und Physiker Gary Donelly bei ihrem Austausch mit den Außerirdischen. Wir lernen physikalische Prinzipien kennen, setzen uns mit der Wahrnehmung von Zeit auseinander und erforschen ausgiebig die Sprache der Heptapoden. Dabei ist es faszinierend, zu erfahren, wie Louise an das Erlernen der Sprache herangeht, wie Sprache entsteht, welche Zusammenhänge zwischen gesprochener und geschriebener Sprache bestehen und wie sehr Sprache unser Denken und Handeln prägt. Machte die Verfilmung vor allem deutlich, wie wichtig Kommunikation ist und wie sehr Kommunikation Entscheidungen und gesellschaftliche Entwicklungen beeinflusst, widmet sich Chiang in seiner literarischen Vorlage der Sprache als eigenständiges Phänomen. Als Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin finde ich beide Ansätze spannend und über die Entstehung und Wirkung von Sprache war mir bereits vor „Story of Your Life“ vieles bekannt. Doch wie Ted Chiang all das in seiner Erzählung bündelt und veranschaulicht, macht dieses ansonsten eher abstrakte Thema noch beeindruckender und auch für Leser ohne sprach- oder kommunikationswissenschaftlichen Hintergrund greifbar.
Neben der Linguistik spielt – titelgebend – die Geschichte von Louises Tochter eine zentrale Rolle. Immer wieder erinnert sich Louise an Momente mit ihrer Tochter, verknüpft den Besuch der Heptapoden mit dem Leben ihres Kindes. Obwohl es sich dabei immer nur um kurze Erinnerungsfetzen handelt und wir Louises Tochter aus einer relativen Distanz wahrnehmen, entsteht ein sehr differenziertes Gesamtbild über Louises Kind und das Mutter-Tochter-Verhältnis. Wie ein roter Faden zieht sich das Familienleben durch die gesamte Erzählung und schlägt Brücken zwischen Vergangenheit und Zukunft. Dies verleiht der ansonsten sehr wissenschaftlich orientierten Geschichte etwas Emotionalität und es ist schade, dass dieser Teil der Geschichte in der Verfilmung zu kurz kam. Allerdings ist in Chiangs Text auch vor Anfang an klar, dass die Momente mit Louises Tochter lange nach dem Besuch der Heptapoden spielen. Die Verfilmung griff hier auf den clevereren Ansatz zurück, indem sie uns Zuschauer lange im Unklaren über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ließ – und damit dem nichtlinearen Zeitempfinden der Heptapoden folgte.
Dieses nichtlineare Zeitempfinden, also das „Erinnern“ an Zukünftiges und Vergangenes, stellt Louise und uns Leser schließlich auch vor die Frage, ob es überhaupt so etwas wie einen freien Willen geben kann, wenn man weiß, was passieren wird: Entweder handelst du exakt so, wie es in deinem Schicksal vorgesehen ist, oder du handelst genau konträr. In beiden Fällen reagierst du nur auf einen äußeren Einfluss, triffst die Entscheidung nicht freiwillig, nicht aus eigener Motivation heraus …
Ted Chiang serviert uns in „Story of Your Life“ wirklich eine geballte Ladung an Theorien, Konzepten und Gedankenspielen – und das auf weniger als 70 Seiten. Doch diese inhaltliche Dichte und Komplexität geht an keiner Stelle auf Kosten des Verständnisses oder der Spannung. Chiang schafft sowohl in „Story of Your Life“ als auch in seinen anderen Geschichten immer wieder den schwierigen Spagat zwischen Anspruch, visionärem Denken, wissenschaftlichen Hintergründen und einer soliden, die Leser bindenden Erzählweise. So mancher sieht in Ted Chiang daher bereits einen modernen Jules Verne – ein Vergleich, der mehr als gerechtfertigt ist.
Alle bisherigen Beiträge zum Leseprojekt:
- Ankündigung bei Phantásienreisen
- Ankündigung bei Miss Booleana
- Erstes Zwischenfazit bei Miss Booleana
- Erster Zwischenbericht bei Phantásienreisen
- Zweites Zwischenfazit bei Miss Booleana
Alle Eindrücke und Gespräche zu „Stories of Your Life and Others“ könnt ihr auf Twitter via #StoriesofChiang nachlesen.
Deine Zusammenfassung ist eine Punktlandung. Das mit dem freien Willen ist im Film wirklich nicht so zum Tragen gekommen, obwohl die Frage mehr als valide ist. Wie kann man bei diesem Zeitempfinden an Entscheidungen und freien Willen glauben. Schwierig. Man kann alleine darüber soviel diskutieren, dass es kein Wunder ist, dass du der Geschichte ein eigenes „Fazit“ gewidmet hast. Der Chiang hat schon eine besondere Zauberkraft – soviele Theorien auf so wenig Seiten. Ich frage mich echt wie der Schaffensprozess seiner Geschichten abläuft und ich habe den Eindruck, dass er ein dermaßen schlauer Kopf ist, dass da nur wenige mithalten können.
* SPOILER ANFANG * (für Leser, die Arrival nicht gesehen und die Geschichte nicht gelesen haben)
Obwohl klar ist, dass die Ereignisse mit ihrer Tochter nach dem Heptapoden-„Projekt“ stattfinden, muss ich aber gestehen, dass ich im Buch auch erst sehr sehr spät verstanden hätte, dass sie in die Zukunft schauen kann. Ich hätte eher vermutet, dass sie Jahre später die Momente in einer Art innerem Monolog Revue passieren lässt. Dahingehend nehmen sich Film und Buch für mich nichts. Oder ich war abgelenkt beim lesen und stand auf der Leitung …
* SPOILER ENDE *
Ich fand an einigen Stellen die Geschichte sogar am schwierigsten nachzuvollziehen von allen bzw. als die für die man am meisten Gehirnschmalz investieren muss. Was gut ist! Das Buch ist wie eine Oase in der Wüste.
Öhm, irgendwie habe ich deinen Kommentar übersehen. :-O
***SPOILER***
Ich glaube, dass gerade darin eine Stärke des Kurzgeschichte liegt: Je nachdem, wie man die Momente mit der Tochter auffasst, puzzlet man sich die Geschichte auf eine eigene Weise zusammen. Beim Text hatte ich durch den Film ja schon das Wissen über die Handlungsebenen. Aber im Film hat mich die Unklarheit, ob die Szenen mit der Tochter vor oder nach den Heptapoden passierten, anfangs echt irritiert. Gleichzeitig hat das auf mich aber auch einen Reiz ausgeübt. Ich denke, am besten wirkt die Kurzgeschichte daher vielleicht sogar dann, wenn man sie ohne Kenntnis des Films liest – und anschließend noch einmal mit dem Wissen um Louises paralleles Erleben/Empfinden erneut zu lesen und so die unterschiedlichen Zeitebenen neu miteinander zu verknüpfen.
***SPOILER-ENDE***
„Ich fand an einigen Stellen die Geschichte sogar am schwierigsten nachzuvollziehen von allen bzw. als die für die man am meisten Gehirnschmalz investieren muss.“ Da stimm ich dir zu. Die Geschichte bietet so viel, worüber man nachsinnen, diskutieren, philosophieren kann und ich habe das Gefühl, es ist eine dieser Geschichten, in der man auch beim zweiten oder dritten Lesen noch immer etwas Neues entdecken wird. Schade, dass Ted Chiang – zumindest hier in Deutschland – so unbekannt ist, da ich auf dem aktuellen Buchmarkt wirklich nichts vergleichbares zu seinen Kurzgeschichten finden kann. Aber vielleicht ist genau das das Problem: Seine Texte sind so außergewöhnlich und anspruchsvoll, dass sie wohl einfach nicht massentauglich genug sind. :-/
Mir ging es bei der Wahrnehmung von Arrival und Story of your Life ähnlich. Die inhaltlichen Schwerpunkte empfand ich als sehr unterschiedlich, wobei mir beide gefallen haben.
Interessant fand ich, dass der Anruf der Bergrettung mit der Ankunft der Heptapoden zusammen fiel wie auch ihre Abreise mit dem Anfang ihrer Geschichte. Die Geschichte als Kreis zu sehen erschien mir als sehr passend.
„Die Geschichte als Kreis zu sehen“ – das ist eigentlich eine gute Beschreibung der Erzählung bzw. visualisiert es diese Form des Erzählens und des parallelen Erlebens von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Abgesehen davon kann man über diese Herangehensweise auch eine gute Erklärung für die runde Schrift der Heptapoden ableiten.
Mir haben Text und Film auch gleichermaßen gefallen und vielleicht war es sogar gut, dass der Film andere bzw. neue Schwerpunkte betrachtet hat – für mich ergänzen sich die beiden Medien dadurch und beides fügt sich für mich zu einem guten Gesamtbild.