Es ist lange her, seit ich einen Roman in weniger als einer Woche durchgelesen habe. „Was vom Tage übrig blieb“ hat es geschafft, mein langsames Lesen anzukurbeln. Allein das macht deutlich, wie sehr Kazuo Ishiguros Roman mich für sich gewinnen konnte.
Im zweiten Teil des Romans wird immer deutlicher, dass wir uns auf Stevens als Erzähler der Geschichte nicht verlassen, ihm nicht alles glauben können. Immer wieder korrigiert er etwas, das er zuvor erzählt hat, stellt seine eigene Erinnerungen in Frage und gesteht, in Mrs. Benns/Miss Kentons Brief etwas gelesen zu haben, das sie nie geschrieben hat. Das wirft nicht nur die Frage auf, was wir ihm glauben können, sondern auch Fragen darüber, was er absichtlich und was er unbewusst tut oder welche Motive ihn leiten. Das führte dann auch zu unterschiedlichen Interpretationen unter uns Lesenden und war für mich einer der Punkte, die die Lektüre von „Was vom Tage übrig blieb“ vor allem innerhalb einer Leserunde so spannend machen.
Alles in allem bleibt der Eindruck, dass Stevens sich (bewusst oder unbewusst) von seiner Umwelt abgrenzt, unfehlbar sein möchte, (falschen) Idealen nachjagt und sich immer wieder Dinge so zurechtlegt, wie es sich für sein Empfinden richtig anfühlt. Hat er dann doch mal etwas getan, das seinen eigentlichen Werten widerspricht – zum Beispiel seinen Dienst für Lord Darlington geleugnet oder ein ganzes Dorf im Glauben gelassen, ein politisch einflussreicher Mann zu sein – dreht er sich auch diese Situationen so, dass er noch in gutem Licht dastehen kann und begründet es mit Traditionen des Butlerberufs oder dem Vermeiden einer für beide Seiten peinlichen Situation. Doch wenngleich er diese fadenscheinigen Ausreden selbst glaubt und im Grunde bestrebt ist, ehrenwerte Tugenden zu leben, macht ihn sein Verhalten nicht sympathisch – und erst recht vertrauenswürdig.
Selbst als Miss Kenton am Endes Romans eine sehr eindeutige Aussage trifft, begreift er nicht, worum es geht (oder möchte es uns gegenüber nicht zugeben?). Nicht zuletzt deshalb hat mich das Ende von „Was vom Tage übrig blieb“ enttäuscht! Nach allem, was Ishiguro im Laufe des Romans Stück für Stück aufgebaut hat, hatte ich für das Ende etwas erwartet, das dann nicht kam. Schade, denn abgesehen davon ist „Was vom Tage übrig blieb“ wirklich grandios und gefiel mir bedeutend besser, als ich es anfangs vermutet hatte.
Mit Stevens als Hauptfigur und Erzähler hatte ich zwar durchaus etliche Probleme, gleichzeitig hat er aber – in Verbindung mit Ishiguros Schreibstil – meine Neugier und Faszination geweckt. Wäre Stevens als Figur nicht so distanziert, als Erzähler nicht so unzuverlässig, hätten wir nicht so ausgiebig über ihn sinniert und diskutiert. „Was vom Tage übrig blieb“ ist damit wie geschaffen für das gemeinsame Lesen. Ohne all die Mitlesenden wäre die Lektüre für mich tatsächlich auch nur halb so intensiv geworden und ich hätte mich geärgert, wenn mir ein unmittelbarer Austausch über das Buch nicht möglich gewesen wäre.
Fazit:
„Was vom Tage übrig blieb“ ist ein großartig geschriebener Roman, dessen Lektüre definitiv einen Austausch mit anderen Lesenden erfordert.
Kazuo Ishiguro: „Was vom Tage übrig blieb“, aus dem Englischen übersetzt von Hermann Stiehl, Blessing 2017, ISBN: 978-3-89667-631-3
Weitere Beiträge zur Leserunde:
- Ankündigung bei Phantásienreisen
- Zwischenbericht bei Phantásienreisen
- Besprechung bei Miss Booleana
Alle Eindrücke und Unterhaltungen zu „Was vom Tage übrig bliebt“ könnt ihr auf Bluesky unter IshiguroLesen nachlesen.
Ich finde das Ende gerade gut, denn es macht das Ganze doppelt tragisch, nach all der Reflexion gibt es keinen Erkenntnisgewinn, Stevens entscheidet sich dafür, sich weiterhin selbst zu belügen, er entscheidet sich gegen sich selbst und für seine Pflicht. Das finde ich niederschmetternd.
Hallo Anette,
ja, aus diesem Blickwinkel passt das Ende natürlich. Es würde auch merkwürdig sein, wenn Stevens sich plötzlich komplett ändert. Damit hab ich auch weniger gerichtet, allerdings eben mit irgendeinem markanten Moment, etwas, das sich für mich mehr nach einem Ende einer Geschichte anfühlt. Während des Lesens entstand bei mir immer wieder der Eindruck, dass Ishiguro auf einen ganz bestimmten Punkt zusteuert, ein Ereignis oder ähnliches – und das passierte dann einfach nicht. Stattdessen war das Ende für mich zu leise und beiläufig – es hätte auch einfach irgendeine andere Stelle innerhalb des Buches sein können. Aber hat Ishiguro wohl einfach während des Romans zu sehr mit meiner eigenen Erwartungshaltung gespielt. ^^
Wie hast du Stevens denn insgesamt wahrgenommen? Hattest du das Gefühl, dass er womöglich doch mehr realisiert, als es scheint und er bewusst Dinge verklärt oder ausblendet?
Ok, klar, wenn man mit einem größeren Ereignis rechnet, ist das Ende sicher enttäuschend. Ich denke schon, dass Stevens sich selbst zu einem bestimmten Teil bewusst belügt, da er innerlich ahnt, wie weh die Erkenntnis tun würde. Er lässt sie also lieber nicht zu, auch wenn eine Aufarbeitung sein Leben verändern könnte (davor hat er wahrscheinlich auch Angst, obwohl es letztendlich positiv wäre).
Liebe Kathrin,
vielen Dank für die tolle Vorstellung – und danke auch an Deine Mitlesenden, die offen dafür waren, dass Du Teile Eurer Leserunde einbinden durftest.
Das Buch ist sofort auf meine Kaufliste gewandert und wird mich in den nächsten Tagen bereits erreichen.
Buchblogs sind sooooowas Tolles! Ich habe dieses Jahr schon unzähhlige Bücher entdeckt, die ansosnten völlig an mir vorbei gezogen wären.
Herzliche Grüße,
Barbara
Hallo Barbara,
oh, das freut mich sehr, dass wir deine Neugier wecken konnten. Das Buch ist auch relativ dünn und lässt sich wirklich gut und leicht weglesen – also vielleicht eine passende Wahl für deinen aktuellen kleinen Hänger. :) Ich bin gespannt, wie du Stevens und seine Geschichte erleben wirst und hoffe, Ishiguro kann dir helfen, das Lesen wieder zu genießen.