Es ist erst wenige Tage her, seit wir mit unserem Projekt IshiguroLesen begonnen haben. Und doch ist es schon Zeit für den Zwischenbericht, denn alle Mitlesenden sind ungefähr bei der Hälfte des Romans angekommen – und wir alle hatten sehr viele Gedanken und Emotionen während der Lektüre. Schon jetzt kann ich sagen, dass „Was vom Tage übrig blieb“ grandios geschrieben – und übersetzt! – ist, wenngleich die Hauptfigur es uns nicht leicht macht.

Butler Stevens erhält eine Woche Urlaub – das erste Mal in seinem jahrzehntelangen Dienst in Darlington Hall. Diese arbeitsfreie Woche akzeptiert er nur schwer und lediglich deshalb, weil sein Herr darauf besteht, dass Stevens auch einmal verreist und die Welt außerhalb des englischen Herrenhauses kennenlernt. Stevens ist ein Mensch, für den es nichts anderes im Leben gibt, als zu dienen. Kein Wunder also, dass er die einzige Urlaubswoche seines Lebens mit etwas Dienstlichem verbindet: Aus einem Brief der ehemaligen Haushälterin Lord Darlingtons, Miss Kenton bzw. inzwischen Mrs. Benn, glaubt er, herauszulesen, dass sie wieder in Darlington Hall arbeiten möchte. Nachdem die Dienerschaft auf vier Personen zusammenbrach, wäre ihre Rückkehr eine große Unterstützung. Also bricht Stevens auf und nimmt diese Reise als Anlass, mit uns auf sein bisheriges Leben zurückzublicken. Ein Leben, das nur darauf ausgerichtet gewesen ist, zu dienen. Ein Leben ohne eigene Bedürfnisse, ohne Freiheiten, ohne Emotionen. Ein Leben, in dem die Arbeit über allem steht und selbst private Schicksalsschläge dem reibungslosen Ablauf des Dienstplans untergeordnet werden – und was dann als „Würde“ oder als „großer Butler“ definiert wird. Für Stevens ist all das normal und er hat es nie hinterfragt. Während er diese Art zu leben rechtfertigt, ja, sogar regelrecht zu glorifizieren scheint, sitzen wir nur traurig und entsetzt über unseren Büchern und haben Mitleid mit diesem Mann, der nie etwas außerhalb der Herrenhaus-Mauern kennengelernt hat.

Stevens‘ förmliche, aufs Dienstliche fokussierte, detaillierte und analytische Art spiegelt sich auch in seiner Art zu erzählen. Er erzählt ausschweifend und fordert so unsere Geduld heraus. Thematisch dreht sich bei ihm alles um Aspekte des Dienstes für ein Herrenhaus. Andere Themen wie Familie, Weltpolitik oder Kultur werden eher beiläufig aufgegriffen und auch nur, wenn eine direkte Verbindung zur Arbeit vorliegt. All das hat Kazuo Ishiguro nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich gekonnt eingefangen: Wie Stevens erzählt, spiegelt 1:1 seine Persönlichkeit wieder. Hermann Stiehl hat Ishiguros Kunst – ja, ich kann diese Art zu schreiben nur als Kunst bezeichnen – hervorragend ins Deutsche übertragen, wie uns auch Marcus bestätigt, der die deutsche Ausgabe mit dem englischsprachigen Original verglichen hat.

Ishiguro hat mit Butler Stevens aber auch eine Figur geschaffen, die nicht unproblematisch ist. Da Stevens nie etwas anderes als die weiße, britische Upper Class kennengelernt hat und Anfang des 20. Jahrhunderts aufgewachsen ist, strotzt er nur so vor Vorurteilen. Schon im Prolog versucht er, mit einem Klischee über Sinti*zze und Rom*nja einen „Scherz“ bei seinem neuen Herrn zu machen. Auf den Antiziganismus folgen später generelle Ressentiments gegenüber allen Menschen, die keine Engländer*innen sind, sowie Klassismus, Sexismus und Pauschalkritik an jüngeren Generationen. Stevens hält wenig von Liebe und Heirat, schließlich sorgt das nur dafür, dass Personen ihren Dienst quittieren oder der Liebe wegen zu einem anderen Herrenhaus wechseln – und bei Scheitern der Beziehung alles bereuen und keinen Sinn mehr in ihrem Dasein finden können. Gutes Dienstpersonal gibt es grundsätzlich nur in England, weil alle anderen Personen ihre Gefühle nicht genug unter Kontrolle haben. Aber gutes Personal ist sowieso rar geworden, denn die nachkommenden Generationen haben viel zu wenige Aufgaben, weshalb sie nachlässig sind, sich nicht mehr mit ihrer Arbeit identifizieren und nicht einmal die Grundlagen beherrschen. Stevens‘ Sicht auf Menschen zu verfolgen, ist furchtbar unangenehm und macht wütend. Ich habe es schwer mit ihm als Hauptfigur. Gleichzeitig bemitleiden wir Stevens, denn gefangen in dieser sehr speziellen, kleinen Welt hatte er nie auch nur die kleinste Gelegenheit, etwas anderes kennenzulernen und Dinge zu hinterfragen.

Ich bin gespannt, wohin diese Geschichte noch steuert und ob Stevens seinen Blick auf das Leben und die Menschen während seiner Reise revidieren wird. Auch dem angedeuteten speziellen Verhältnis zwischen Stevens und Miss Kenton/Mrs. Benn gilt es noch auf den Grund zu gehen – bisher ist mir ein Rätsel, wieso die beiden jahrelangen Briefkontakt halten, obwohl ihre Zusammenarbeit einst von etlichen Konflikten geprägt war. „Was vom Tage übrig blieb“ hat mir aber schon jetzt verdeutlicht, dass ich unbedingt mehr von Ishiguro lesen möchte.

Kazuo Ishiguro: „Was vom Tage übrig blieb“, aus dem Englischen übersetzt von Hermann Stiehl, Blessing 2017, ISBN: 978-3-89667-631-3


Weitere Beiträge zur Leserunde:

Alle Eindrücke und Unterhaltungen zu „Was vom Tage übrig bliebt“ könnt ihr auf Bluesky unter IshiguroLesen nachlesen.