2015 war „Freaks“ das erste Buch, das ich von Joey Goebel las. Die tragikomische Geschichte um fünf vollkommen unterschiedliche Personen, die zu anders und auffällig für die langweilige Mittelmäßigkeit ihrer Kleinstadt sind, eine Band gründen und für ihren ersten Auftritt proben, war so originell, so einzigartig – und legte den Grundstein dafür, dass Joey Goebel bis heute einer meiner absoluten Lieblingsautoren ist.
Am 9. Dezember 2023 bot sich mir nun die Gelegenheit, die „Freaks“ live on stage zu erleben: Als Koproduktion der Folkwang Universität der Künste und des Schauspielhauses Bochum gastierte die Inszenierung von Regiestudent Luis Liun Koch für einen Abend im Stuttgarter Wilhelma-Theater.
Als das Publikum den Saal betritt, sind die fünf Schauspielstudierenden und Musiker André Schöne bereits auf der Bühne und in ihren Rollen. Sie behalten die Menschen im Saal im Blick, beobachten und mustern uns – so wie sonst die „Freaks“ in Goebels Roman angestarrt werden.
Auch im weiteren Verlauf der rund einstündigen Inszenierung gibt es keine vierte Wand zwischen den Schauspielenden und dem Publikum. So stellen Maurizia Bachnick (als Ember), Maleika Dörschmann (Ray), Maddy Forst (Luster), Anna Lepskaya (Opal), Henri Mertens (Aurora) und Musiker André Schöne zunächst sich und ihre Rollen auf der Bühne vor. Gelegentlich laufen sie selbst durch die Publikumsreihen, setzen sich neben Zuschauende und binden uns ins Stück ein. Beispielsweise bringt Maurizia Bachnick als in Rage geratende achtjährige Ember das gesamte Publikum dazu, aufzustehen, um mit uns ein Ereignis nachzustellen. Denn immer wieder schildern die Schauspielenden direkt ans Publikum gewandt wichtige Hintergründe und Zusammenhänge. Szenen, die sich zwischen den Hauptfiguren und Nebenfiguren abspielen, werden meist rückblickend geschildert, indem Ember, Opal, Ray, Aurora und Luster so tun, als wären sie die jeweiligen Nebenfiguren. Theater im Theater. Dabei zeigt sich gut, wie schnell die fünf Schauspielenden in andere Charaktere wechseln können, mit welcher Leichtfertigkeit sie Sprechweise, Mimik und Gestik variieren. Einfach großartig!
Im Hintergrund stets dabei: André Schöne an der Gitarre. Der Musiker übernimmt zwar keine Rolle aus dem Roman, spielt aber immer wieder passende Lieder und verleiht der Inszenierung einen eigenen Soundtrack.
Diese unkonventionelle Herangehensweise passt hervorragend zu Goebels Roman. Überhaupt fangen die Studierenden der Folkwang Universität sehr gekonnt die Mischung aus Humor, Leichtigkeit, Gesellschaftskritik, Tragik und Ernsthaftigkeit ein, die so typisch für Joey Goebels Geschichten sind. Ich hätte ihrer Inszenierung von „Freaks“ am liebsten noch länger zugesehen.
Sehr gut gefällt mir auch die visuelle Umsetzung, die reduziert und gleichzeitig markant ist. Die Darstellenden tragen durchgehend die gleichen Outfits; der einzige Kostüm„wechsel“ besteht darin, dass sich die Band für ihren großen Auftritt am Ende glitzernde Weste und Stulpen überzieht (Kostüm: Lara Katarina Suppe). Ähnlich verhält es sich mit dem Bühnenbild (Karl Dietrich), das durchgehend aus einer Haltestellen-Sitzbank, einem Plastikstuhl, drei Reklametafeln und zwei Leuchtschriften der Tankstelle von Embers Eltern besteht und erst für das Konzert der „Freaks“ umgebaut wird.
Der musikalische Auftritt der „Freaks“ bietet zum Ende ein weiteres Highlight und wenngleich sich die fünf Außenseiter*innen von ihrer Umwelt abheben, haben sie doch Musik geschrieben, die eingängig ist und bei der das Publikum nicht stillsitzen kann: nickende Köpfe, wippende Füße, rhythmisches Klatschen, leises Mitsingen und Jubel im ganzen Saal. Wie im Roman wird die gute Stimmung just davon unterbrochen, dass Ray angeschossen wird. Dieses Ereignis bekommen wir als Publikum aber lediglich erzählt. Wir hören keinen Schuss, wir erleben nicht die Panik, die die Bandmitglieder nach diesem Angriff ergreift. Stattdessen erfahren wir lediglich, wie es mit den fünf Hauptfiguren weitergeht und sehen, wie Ember ein Streichholz in einen Benzinkanister wirft und die Bühne in Dunkelheit verschwindet. Mir persönlich ist diese Umsetzung des Endes zu ruhig – ich hätte mir den Knall des Pistolenschusses oder des explodierenden Kanisters gewünscht, ein lautes, abruptes Ende statt eines leisen Fadeouts.
Bedauerlicherweise ist der Theatersaal an diesem Abend nur zur Hälfte gefüllt – was mich aber wenig überrascht, denn Werbung wurde für die Aufführung quasi gar nicht gemacht. Selbst ich, die in unmittelbare Nähe zum Theater wohnt, habe erst 24 Stunden vor Aufführung davon erfahren, als ich ausnahmsweise den Veranstaltungskalender des Stadtmagazins durchging. Dabei hat „Freaks“ so viel mehr Aufmerksamkeit und Publikum verdient! Ich habe nach diesem Abend jedenfalls große Lust, wieder etwas von Joey Goebel zu lesen. Und wäre ich nicht schon Goebel-Fan, hätte das Stück mich definitiv zu einem gemacht.
Impressionen zur Inszenierung (mit anderem Bühnenbild) findet ihr auf der Website vom Schauspielhaus Bochum sowie auf YouTube.
Geplauder