„Hell is the absence of the people you long for.“ (S. 143)

Bücher, in denen ein Virus das Ende der Zivilisation bedeutet, gibt es zuhauf – meist konzentriert auf gewalthaltige Szenen und Endzeitstimmung, zumindest aber nie sonderlich hoffnungsvoll. Emily St. John Mandels „Station Eleven“ ist da anders, indem es auch das Davor und das viel spätere Danach beleuchtet und einen Hoffnungsfunken glimmen lässt.

„Station Eleven“ ist aber auch eines jener Bücher, deren Wirkung nicht unwesentlich davon abhängt, WANN sie gelesen werden. Binnen weniger Wochen stirbt der Großteil der Menschheit an einem neuen Grippevirus – einem Virus, das den Körper schon nach wenigen Stunden im Griff hat. Menschen erliegen dem Virus innerhalb eines Tages nach Ansteckung. Las oder sah ich früher solche Szenarien, tat ich das sofort als unrealistisch ab. Nach den COVID-Jahren ist das anders. Nun erscheint ein derart ansteckendes und schnell tödliches Virus gar nicht mehr so abwegig. Und so fühlt sich alles in „Station Eleven“ erschreckend nah und beklemmend an.

Was ich Emily St. John Mandel dabei hoch anrechne: Sie hat aus dem altbekannten Motiv nicht den x-ten Endzeitroman gemacht, in dem es nur darum geht, aufzuzeigen, wozu Menschen in Notlagen und Verzweiflung fähig sind. Es gibt kein Ausschlachten von Leid, keine übertriebene Dramatik. Stattdessen erzählt die Autorin in recht ruhigen Tönen eine Geschichte über die Menschheit. Sie zeigt, wie fragil das ist, was wir Zivilisation nennen, wie abhängig wir von vielem geworden sind, wie leicht wir Jahrtausende altes Wissen verlieren würden – aber auch, wie wichtig und trostspendend Kultur in schwierigen Zeiten ist und warum es nicht reicht, nur zu existieren, nur zu überleben.

All das tut Emily St. John Mandel anhand verschiedener Charaktere unterschiedlichen Alters und an unterschiedlichen Orten, deren Leben miteinander verbunden sind.

Schauspieler Arthur Leander stirbt gleich im ersten Kapitel auf der Bühne, am Tag, als das fatale Virus beginnt, sich in den USA zu verbreiten. Trotzdem ist Arthur eine zentrale Figur des Buches – er ist das Bindeglied zwischen allen anderen Figuren: zwischen seiner Ex-Frau Miranda, in deren Comics der Ursprung für Mandels Buchtitel liegt; Arthurs bestem Freund Clark, der zusammen mit Arthurs zweiter Ex-Frau und Sohn wegen der Pandemie in einem Flughafen strandet und dort die nächsten Jahrzehnte verbringt; dem Rettungssanitäter und ehemaligem Paparazzo Jeevan, der Arthur auf der Bühne zu Hilfe eilt; der Schauspielerin Kirsten, die als Kind sieht, wie Arthur auf der Bühne stirbt, nach der Pandemie zusammen mit dem reisenden Theater und Orchester – der Travelling Symphony – Jahr für Jahr durch die USA zieht und alles sammelt, was sie über Arthur finden kann.

Ihre Leben vor und nach der Pandemie könnten kaum unterschiedlicher sein und zeigen eine Bandbreite auf, wie unterschiedlich Lebenswelten nach dem Zusammenbruch des uns Bekannten aussehen können. Besonders deutlich wird das an Kirsten, die sich im Gegensatz zu den anderen Hauptfiguren kaum noch an die Welt vor der Pandemie erinnern kann – während Clark ein Museum mit inzwischen unnützen Dingen der vergangenen Welt eröffnet.

Apropos Dinge: Durch den ganzen Roman hindurch gibt es Gegenstände, die – genau wie Arthur – Figuren miteinander verbinden und Symbolcharakter erhalten. Was in vielen Werken schnell plakativ und aufgesetzt wirkt, hat Emily St. John Mandel sehr subtil umgesetzt. Bei einigen Dingen ist früh klar, dass sie eine bestimmte Bedeutung haben werden, trotzdem bleibt während des Lesens die Neugier darauf, was hinter diesen Gegenständen steckt und welche Rolle sie im Laufe der Jahrzehnte spielen.

Emily St. John Mandel erzählt die Geschichte außerdem nicht anhand des klassischen Spannungsbogens. „Station Eleven“ lebt nicht von Ereignissen, sondern vor allem von den Figuren und von den kleinen Momenten und Bildern, die die Autorin zeichnet. Sie hat damit vielmehr eine Chronologie, ein Panorama verschiedener Leben und Zeiten erschaffen.

Nebenbei ist „Station Eleven“ eine Liebeserklärung an Literatur, Theater und Musik im Allgemeinen sowie an Shakespeare, Science Fiction und Comics im Speziellen. Besonders in der ersten Romanhälfte hat mir die Travelling Symphony immer wieder Lust darauf gemacht, wieder etwas von Shakespeare zu lesen. Im zweiten Teil des Buches rückte das leider in den Hintergrund. Dafür verdichteten sich die Leben der Figuren immer stärker. Ursprünglich wollte ich nach der ersten Hälfte des Romans einen Zwischenbericht verbloggen – dann lag ich jedoch kränkelnd im Bett und versank komplett in der Geschichte. Kaum beendet, wäre ich am liebsten sofort zurückgekehrt, nicht zuletzt deshalb, weil mir die Figuren sehr ans Herz gewachsen sind (wenngleich ich mich mit Arthurs Verhalten sehr schwergetan habe).

Fazit:

Eine der besten Geschichten über das Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen – und noch so viel mehr! Ein genresprengender Roman, der vermutlich für alle Menschen etwas bereithält.

Emily St John Mandel: „Station Eleven”, Picador 2014, Kindle E-Book-Version ASIN: B00JQ9FYAM, ISBN: 9781447269007


Weitere Beiträge zur Leserunde:

Alle Eindrücke und Unterhaltungen zum gemeinsamen Lesen von „Station Eleven“ findet ihr auf Twitter unter #atStation11.