„10 Klassiker, die man gelesen haben muss“

„Die 50 wichtigsten Bücher der Weltliteratur“

„Diese Bücher solltest du kennen!“

„Die bedeutendsten Autor*innen aller Zeiten“

Wir alle kennen diese Artikel, Videos, Post, die uns sagen, welche Bücher in jede Lesebiografie gehören sollten. Über den (Un-)Sinn solcher Listen und Vorgaben, den Klassikerbegriff oder darüber, wer ein Werk als Klassiker festlegen (darf), kann viel diskutiert werden. Aber nichts davon soll Thema dieses Beitrags sein, denn mit diesen Fragen haben sich andere schon ausführlich und differenziert auseinandergesetzt.[1]

Vielmehr soll es in diesem Beitrag darum gehen, wie Menschen zum Lesen von Klassikern gebracht werden (sollen). Denn wir wissen ja: Wenn wir keine Klassiker lesen, sind Kultur und Zivilisation dem Untergang geweiht (oder so ähnlich). Im Folgenden daher bewährte Ansätze, um Menschen zur Lektüre sogenannter Klassiker zu bewegen.*

*kann Spuren von Ironie enthalten

 

1. Klassiker als Pflichtlektüre an Schulen

Hunderttausende Personen mit unterschiedlichen sozialen, finanziellen und Bildungshintergründen, Erfahrungen, Interessen und Wertesystemen zum Lesen eines nicht selbst gewählten Werkes zu zwingen, schafft schon mal die ideale Basis und führt keineswegs zu einer einseitigen, oberflächlichen Literaturvermittlung. Auch ist es absolut nicht demotivierend oder frustrierend. Und falls die Schüler*innen unverständlicherweise keine Lust auf das Werk haben, dann 1) liegt es an ihnen und 2) finden sie auf diese Weise zumindest ein gemeinsames literarisches Feindbild, stöhnen genervt auf und streiten über die Wahl des Buches – das ist doch schon mal besser, als wenn sie sich gar nicht mit dem Buch auseinandersetzen.

Als perfekte Schullektüre haben sich Werke erwiesen, die möglichst weit weg von Alter und Lebenswirklichkeit der lesenden Schüler*innen sind. Für eine individuelle Auseinandersetzung mit dem Werk und eine gelingende Interpretation ist es nicht nötig, Empathie und persönliche Anknüpfungspunkte zu schaffen. Distanz und Gleichgültigkeit zu schaffen und damit eine individuelle Auseinandersetzung und Interpretation zu verhindern.

Als perfekte Schullektüre haben sich Werke erwiesen, die möglichst weit weg von Alter und Lebenswirklichkeit der lesenden Schüler*innen sind. Für eine individuelle Auseinandersetzung mit dem Werk und eine gelingende Interpretation ist es nicht nötig, Empathie, Nähe und persönliche Anknüpfungspunkte zu schaffen. Wichtig ist nur, DASS sie das Werk lesen und lernen, was sie später in der Klausur oder Prüfung schreiben müssen, um halbwegs gute Noten zu erzielen.

Um zu vermitteln, wie zeitlos und relevant das Werk ist, sind folgende Vorgehen etabliert:

  • Jedes noch so kleine Wort sollte ausführlich analysiert, interpretiert und erörtert werden. In einer Schulstunde darf maximal eine Buchseite behandelt werden, am besten aber nur ein Absatz. Die Beschäftigung mit jedem Wort, jedem Satz muss so erschöpfend sein, dass die eigentliche Handlung, Thematik und Figuren des Werkes in den Hintergrund treten.
  • Fächerübergreifendes Lernen und Arbeiten ist überbewertet. Das Buch sollte in einem kleinen, geschlossenen Rahmen gelesen werden, in dem die Lesenden an die Lektüre ohne Kenntnis der Zeit und Umstände der jeweiligen Epoche herangeführt werden. Alles, was zum Verstehen und Interpretieren des Textes relevant ist, sollten die Schüler*innen einfach so wissen oder direkt aus dem Text herauslesen.
  • Zeitgemäße Adaptionen wie Verfilmungen oder Comics oder sogar Neu-Interpretationen oder Spin-Offs sollten vermieden werden. Ein Buch, das stellvertretend für seine Epoche steht, darf schließlich nicht unter modernen Gesichtspunkten betrachtet werden.

2. Abgrenzung durch Klassiker

Es sollen zwar alle die Relevanz von Klassikern erkennen, aber Klassiker sind trotzdem nichts für jede*n. Ein bisschen sollen Klassiker doch dazu dienen, sich von anderen abzugrenzen und zu zeigen, wie gebildet und kultiviert man ist. Mit folgenden Vorgehensweisen entsteht der Eindruck, dass Klassiker-Lesende einer Art eingeschworenem Kreis oder Club angehören. Und wer will nicht dazugehören, Insider sein?

  • In öffentlichen Auseinandersetzungen mit dem Werk, bspw. auf Buchmessen oder im Feuilleton, zählt vor allem das Wort älterer, weißer, abled, cis-heteronormativer Männer aus Kultur, Politik oder Journalismus. Junge Menschen, Menschen mit einem Abschluss unterhalb eines Universitätsniveaus, Personen aus Arbeiter- oder Angestelltenhaushalten und generell alle abseits der zuvor genannten Kreise müssen nicht berücksichtigt werden – wen interessiert schon ihre Sichtweise? Unsere Gesellschaft ist divers? Das wird an dieser Stelle ausgeblendet. Maximal vertretbar ist eine Frau, um eventuelle Quoten zu erfüllen. Aber diese muss unbedingt weiß, abled, heteronormativ und hochgebildet sein und möglichst nicht zu feminin wirken – Hosenanzüge sind ratsam. Sie sollte außerdem wenig zu Wort kommen und ihre Meinungen sollten von der Männerrunde müde belächelt oder unterbuttert werden.
  • Wenn eine Person sagt, einen bestimmten Klassiker nicht gelesen zu haben oder noch nie von Autor*in oder Titel gehört zu haben, muss Entsetzen darüber folgen und suggeriert werden, dass die Person ungebildet sei und hinterm Mond lebe („Aber das ist ein Klassiker, den kennen doch alle“).
  • Niemand muss jeden Klassiker gelesen haben. Es reicht, von ihnen gehört zu haben und dann so oft wie möglich Namen und Titel zu nennen, um die eigene Kultiviertheit zu offenbaren und die vermeintlich wichtigen Werke ins Bewusstsein anderer zu rücken.

3. Vordefinierte Meinungen und Interpretationen

Was als Klassiker gilt, ist gut und daran darf nicht gezweifelt werden. Andere Meinungen sind nicht zu dulden und können nur darin begründet liegen, dass die Person dieses Werk einfach nicht verstanden hat.

Das gilt auch für Interpretationen. Nur die Interpretationen sind zulässig, die von der Fachliteratur präsentiert werden. Wer etwas anderes interpretiert, liegt per se falsch und macht sich lächerlich. Das ist dann auch deutlich zu machen!

4. Spoiler

Klassiker sind zu kennen, ergo auch ihre zentralen Figuren und der jeweilige Handlungsverlauf. Wer von noch nicht gelesenen Klassikern, die ganze Synopsis nicht kennt, ist ungebildet und selbst schuld. In Gesprächen oder Beiträgen über das Werk kann also jederzeit auch auf das Ende und wichtige Ereignisse eingegangen werden. So etwas wie Spoiler gibt es bei Klassikern nicht. Es ist keine Rücksicht zu nehmen, ob etwas Wichtiges verraten und damit eine „Erst-Lektüre“ ruiniert wird. Nur wenn auch offen über wichtige Momente innerhalb der Geschichte gesprochen werden darf, ist eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Klassiker sinnvoll und wertvoll.

Ja, sogar im Vorwort oder Klappentext zum Klassiker, kann guten Gewissens gespoilert werden, welches Schicksal welche Figur erwartet oder wie die Geschichte endet. So wissen die potenziellen Leser*innen wenigstens gleich, was sie erwartet.

In meinem Bücherregal haben als Klassiker bezeichnete Bücher heute einen festen Platz und sie werden gern von mir gelesen. Merkwürdigerweise ist das aber nicht dem oben geschilderten, etablierten Umgang mit den sogenannten Klassikern verdanken, sondern diesem totgesagten Medium „Blog“.

[1] Über den Klassikerbegriff und damit verbundene Erwartungshaltungen hat z.B. Miss Booleana gebloggt.