Nachdem ich im April ankündigte, dass ich Abstand und einen freien Kopf brauche, um ins Lesen – und irgendwann ins Bloggen – zurückzufinden, tat ich lesetechnisch erst einmal: nichts. Wochen-, nein, monatelang rührte ich kein Buch an, hörte höchstens abends mal ein halbes Stündchen in „Die Unendliche Geschichte“ rein und schaute mir die Theaterinszenierung von Seethalers „Der Trafikant“ an. Und dieser Verzicht hat sich so gut angefühlt! Versteht mich nicht falsch: Ich liebe das Lesen, aber es tat gut, mir keinen Druck, kein schlechtes Gewissen machen zu müssen, wenn für mehrere Wochen weder Zeit noch mentaler Freiraum für Bücher vorhanden sind. Und ich wusste ja, dass dieser Zustand des Nicht-Lesens enden wird, dass ich Lesen irgendwann wieder mit Genuss gleichsetzen würde. Aber dazu brauchte ich einen Cut.
Erst als der nasskalte Frühling ein Ende nahm und der Juni Sonne und Wärme eine schier endlose Hitzewelle mit sich brachte, erwachte meine Lust auf Geschichten. An das Lesen von längeren Texten war aber noch nicht zu denken. Also griff ich zu Comics. Innerhalb eines Wochenendes widmete ich mich „Der große Indienschwindel“ und „Sapiens: Der Aufstieg“. Mehr als 400 Seiten beste Unterhaltung und Schwung für die grauen Zellen.
Den Schelmencomic „Der große Indienschwindel“ um den Hochstapler Don Pablos hatte ich vor sehr langer Zeit schon einmal begonnen, fand damals aber keinen Zugang zu dieser Geschichte. Dieses Mal war das anders und ich erlebte den Comic von Alain Ayroles und Juanjo Guarnido trotz vereinzelter Längen wie Popcornkino auf Papier. Am Ende blieb für mich nur die Frage: Was davon ist Pablos wirkliche Geschichte und was nur eine seiner vielen Fiktionen? Doch vielleicht ist das nicht wichtig – am Ende lebt jede Legende, jeder Mythos durch Auslassungen und Hinzugedichtetes, die die Wahrheit oft langweilig erscheinen lassen. Vielleicht ist Pablos Geschichte all das Gelesene – oder gar nichts davon, vermutlich aber irgendwas dazwischen.
Yuval Noah Hararis Sachbuch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ hat mich vor Jahren als Hörbuch total in den Bann gezogen. Auf die mehrteilige Comicadaption „Sapiens“ war ich daher sehr neugierig, hatte aber auch Sorge, dass die Informationsvermittlung zu Lasten der Gestaltung und Dramaturgie gehen könnte. Diese Befürchtung hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. Daniel Casanave und David Vandermeulen ist es unglaublich gut gelungen, all die Fakten, Theorien und komplexen Zusammenhänge verständlich, anschaulich und auf den Punkt zu vermitteln – und dabei hochaktuelle Bezüge herzustellen und ein passendes Maß an Leichtigkeit und Humor einzubinden.
Nachdem mich der erste Band also so begeistert hatte, musste sofort Band 2 – „Die Falle“ – her. Auch diesen Teil habe ich sehr gern gelesen, wenngleich ich hier einiges unnötig in die Länge gezogen und repetitiv fand. Gefeiert habe ich aber die kleinen literarischen und popkulturellen Easter Eggs wie den Stoff-Totoro und das Auftreten Franz Kafkas, ohne dessen Namen explizit zu nennen.
Die drei Comics und die Hörbuchadaption von „Die Unendliche Geschichte“ blieben bis August leider die einzigen Lektüren. Als es mit Beginn der Sommerferien in Baden-Württemberg aber beruflich etwas minimal ruhiger wurde und mich drei Wochen Urlaub bzw. Reisen erwarteten, wurden Bücher wieder relevanter. Als Reiselektüre ins Baltikum begleitete mich Raynor Winns autobiografisches „Der Salzpfad“. Die Geschichte von Raynor und Moth Winn, die in kurzer Zeit ihr Zuhause und ihre berufliche Existenz verlieren, gleichzeitig eine hoffnungslose medizinische Diagnose erhalten und mangels eines Zuhauses den South West Coast Path entlangwandern und wildcampen, wurde zu einem viel gelobten Bestseller. Doch so traurig und zugleich hoffnungsvoll ihre Geschichte ist – ich konnte nicht in die Begeisterungsstürme einfallen. Zu vieles blieb mir zu vage, zu wenig greifbar und obwohl der Großteil des Buches die beiden bei ihrer Wanderung begleitet, bekam ich nie ein Gespür für ihre Wanderung: Was haben sie wahrgenommen und empfunden? Wie sieht die Landschaft um sie herum aus, was riechen, hören, schmecken sie? Wie fühlt sich der Kontrast zu ihrem bisherigen Leben an? Gewiss, das wird hin und wieder aufgegriffen, aber zu selten und zu allgemein. Für meinen Geschmack konzentierte sich das Buch zu sehr auf die Begegnungen mit anderen und darauf, was sie körperlich können oder nicht können. Immer wieder hatte ich den Eindruck, dass Raynor Winn mich als Leserin gar nicht an ihre Geschichte heranlassen möchte, dass dort (aus Selbstschutz?) eine unsichtbare Mauer errichtet ist, die mich daran hindert, mich in die Situation einfühlen zu können und ihren Spuren auf dem Küstenpfad zu folgen. So fällt „Der Salzpfad“ für mich in die Kategorie: „Ganz okay, es gelesen zu haben, aber wer es nicht liest, verpasst auch nichts“.
Am Ende des Urlaubs hielt ich noch ein wenig an Non-Fiction fest und verband mein Interesse an Nachhaltigkeit mit dem Beruflichen: Auf einer Tagung im Frühjahr wurde ich auf „Psychologie im Umweltschutz. Handbuch zur Förderung nachhaltigen Handels“ von Karen Hamann, Anna Baumann und Daniel Löschinger aufmerksam. Nun hatte ich endlich Zeit, mich darin zu vertiefen. Ich habe das Buch in kurzer Zeit begierig gelesen, viel markiert und erhielt erstmals für einiges, was ich zwar spürte und wusste, aber nicht benennen konnte, Fachbegriffe und wissenschaftliche Grundlagen. Und vor allem fand ich im Handbuch viel Inspiration und Motivation für noch mehr eigenes Engagement! Wer sich selbst mit psychologischen Ansätzen und Hintergründen zu nachhaltigen (oder eben nicht-nachhaltigen) Verhaltensweisen beschäftigen möchte, findet das Buch als PDF kostenfrei unter CC-Lizenz beim Verlag oekom.
Der September schließlich stand unter dem Ziel, mich auf den SUB zu konzentrieren. In M. R. C. Kasasians „Mord in der Mangle Street“ fand ich leichten, unterhaltsamen Cozy Crime im viktorianischen London. Nicht überraschend oder außergewöhnlich, aber gut für entspannte Leseabende, wenn die Kopfleistung nicht mehr auf Hochtouren laufen kann oder soll. Mit „Mord in der Mangle Street“ hat der Autor versucht, auf den Spuren von Poes Detektiv C. Auguste Dupin und Doyles legendärem (aber von Dupin inspirierten) Sherlock Holmes zu wandeln. Der Zeitgeist passt, die exzentrische und geniale Art des Detektivs auch. Dennoch wirkt es wie ein leicht gemachtes Wandeln auf den bekannten Pfaden – wenngleich M. R. C. Kasasian seinem Ermittler Sidney Grice mit March Middleton eine schlagfertige (und trinkfeste) Co-Ermittlerin an die Seite gestellt hat. Die bewussten Querverweise zu Doyle und Holmes und die Betonungen darauf, dass Grice nicht nur cleverer und überlegener ist, sondern gar als Vorlage für Holmes dienen soll, sind zudem schnell ausgelutscht und in ihrer Überheblichkeit nervtötend.
Die letzte Lektüre des Septembers bildete schließlich „Bienensterben“ von Lisa O’Donnell. Jahrelang lag das Buch ungelesen im Regal. Nachdem es zu seinem Erscheinen überbordend gefeiert wurde und in den Medien omnipräsent war, verdrängte ich den Roman bewusst lange auf dem SUB. Außer dem Wissen um die Lobeshymnen hatte ich nun nach so vielen Jahren zum Glück keine Erinnerungen mehr an das Buch und konnte unvoreingenommen loslesen. Doch ging es mir ähnlich wie mit „Der Salzpfad“: Kann man lesen, ist aber kein Meisterwerk. Mir gefiel, wie Lisa O’Donnell mit Sprache spielt, sie als Ausdruck für die verschiedenen Persönlichkeiten nutzt. Auch das Unverblümte, Direkte und teils Konträre mochte ich. Und Lennie, der sich so fürsorglich um die beiden Schwestern Marnie und Nelly kümmert, ist mein persönlicher Held der Geschichte. Trotzdem hat mich die Handlung nicht so berührt und erschüttert, wie sie sollte angesicht dessen, dass hier zwei Jugendliche komplett auf sich allein gestellt sind, um ihre Existenz und um einander fürchten müssen, nachdem ihre drogenabhängigen Eltern tot sind und niemand davon erfahren darf. Nichts, was in „Bienensterben“ passiert, hat mich überrascht, geschweige denn schockiert. Doch genau das habe ich mir von diesem Roman erwartet – ich wollte eine Geschichte, die kalt, hart und düster ist.
Ihr seht also, meine Rückkehr in die Welt der Geschichten war abwechslungsreich – hinsichtlich Genres, Format, Themen und Begeisterungspotenzial. Ich selbst habe in diesem halben Jahr gemerkt, wie sich mein Blick und mein Anspruch an Geschichten gewandelt haben – und dass es mir leichter als früher fällt, mich von gelesenen Büchern zu trennen, sie weiterzugeben an andere Leser*innen. Was mich nicht zu 100% überzeugt, bleibt nicht im heimischen Regal und darf durchaus irgendwann von mir vergessen werden.
Geplauder