Mehr als anderthalb Jahre sind vergangen, seit ich den vierten Band von Naoki Urasawas „20th Century Boys“ las. Ich fürchtete daher, dass meine durch die Pandemie bedingte Leseflaute zur Folge haben könnte, dass mir der Wiedereinstieg in die Serie schwer fällt. Doch da habe ich den Mangaka unterschätzt. Urasawa schafft es, trotz aller Komplexität seiner Handlung und der Vielzahl an Figuren, seine Leser*innen leicht abzuholen. Alles, was in den nächsten Kapiteln von Relevanz ist, wird in irgendeiner Form kurz, beiläufig und natürlich wieder aufgegriffen – ausführliche Rückblicke oder Zusammenfassungen benötigen wir nicht, um unsere Erinnerungen aufzufrischen. Und so war ich nach der langen Pause schnell wieder im Tokio des Jahres 2014 angekommen und bangte mit Kanna, Chono, Kyoko, Otcho, Kakuta, Yukiji und Yoshitsune um ihre Leben und die Menschheit.

Band 5 der Perfect Edition konzentriert sich dabei auf zwei wesentliche Handlungsstränge:

Der erste Schwerpunkt setzt da an, wo Band 4 endete, nämlich bei Schülerin Kyoko Koizumi, die in Tomodachi Land (Friend Land) die Identität des „Freundes“ herausfinden will. Dabei sieht sie ein Gesicht, das sie nicht sehen dürfte und das normalerweise unter einer Maske verborgen ist. Nachdem Kyoko aus Tomodachi Land entlassen wird, wird sie auf zweifache Weise verfolgt: Zum einen holen sie immer wieder Albträume von dem Gesicht unter der Maske ein; ein Gesicht, das ihr schon bald darauf im realen Leben begegnen und die Schülerin in eine gefährliche Situation bringen wird. Zum anderen steht Kyoko unter der Beobachtung der Friendship Democratic Party – die Partei weiß, wo Kyoko ist, was sie tut und welche Absichten sie hat. Schließlich wird der Schülerin mit einer Einweisung nach Tomodachi World (Friend World) gedroht, wo die Hirnwäschen noch stärker und die Methoden noch grausamer sein sollen.

Parallel dazu erzählt Band 5 von Kannas zunehmend offeneren Kampf gegen den „Freund“. Ein Casino-Besuch mit einer legendären Partie des berüchtigten Glücksspiels Rabbit Nabokov – einer Erfindung Urasawas – offenbart nicht nur, welche besonderen Fähigkeiten Kanna hat, sondern ist auch der Grundstein für ein Großereignis. In Folge dessen schafft Kanna etwas, das bisher unmöglich schien: Die thailändische Mafia, die chinesische Mafia und die Obdachlosen, die einst befeindet waren, geben einander die Hand, legen ihre Fehde auf Eis und verbünden sich mit Kanna gegen den „Freund“ und die Friendship Democratic Party. Damit hat Kanna eine regelrechte Armee auf ihrer Seite und verfügt über ein gut verzweigtes, organisiertes und informiertes Netzwerk. Erzählerisch hat es sich Urasawa hierbei aber recht einfach gemacht. Ja, Kanna hat Charisma, außergewöhnliche Fähigkeiten und gute Argumente. Dass aber hunderte, oder gar tausende, von Gewalt geprägte Männer ihr so an den Lippen hängen, dass die jahrelange, tödliche Fehde ein derart plötzliches Ende nimmt und ausnahmslos alle dem neuen Friedensbündnis zustimmen, wirkt utopisch und naiv. Für derartige Wendungen hat Urasawa in den Vorgängerbänden deutlich mehr Geschick bewiesen.

Nebenbei erfahren wir vom New Book of Prophecy, in dem Kenji einst niederschrieb, was nach dem Bloody New Year´s Eve geschehen wird, und hören die traurige Geschichte des gesichtslosen Außenseiters Sadakiyo. Außerdem verbinden sich die Handlungsstränge um Kanna und Kyoko und es gibt ein Wiedersehen mit Masao Tamura, dem fanatischen „Freund“-Anhänger, der später mit Otcho im selben Gefängnis zur Legende wurde.

Auf die über 400 Seiten des Bandes betrachtet ist all das aber recht wenig Handlung. Naoki Urasawa nimmt sich in diesen Kapiteln deutlich mehr Zeit für die Ereignisse als in den vorherigen Bänden. Das erzeugt – künstliche – Spannung und zögert hinaus, ob sich eine Bedrohung oder Prophezeiung bewahrheitet. Am Ende schloss ich diesen Band mit dem Gefühl, in der Geschichte um die „20th Century Boys“ nicht viel weitergekommen zu sein.

Die Stärke des fünften Bandes der Perfect Edition liegt demnach auch nicht auf der dramaturgischen Ebene, sondern allein in den Figuren. Es ist spannend zu verfolgen, wie sich Koyko Koizumi von der anfangs leicht nervigen, nur auf Musik und Konzerte fixierten Jugendlichen zur kritisch hinterfragenden, forschen und toughen Frau weiterentwickelt – wenngleich es durchaus noch Momente gibt, in denen ihre impulsive, ungeduldige Art über Verstand und Vorsicht siegt und sie in lebensgefährliche Situationen bringt. Ein wichtiges Element ist auch Sadakiyos Geschichte, die Urasawa sehr einfühlsam, natürlich und glaubhaft eingeflochten hat und mit der er wieder einmal beweist, dass in „20th Century Boys“ die wenigsten Dinge so sind, wie sie zunächst scheinen. Der Fall Sadakiyos ist aber auch ein gelungenes Beispiel dafür, dass wir nicht in „gut“ und „böse“ kategorisieren sollten – weder hinsichtlich des Mangas, noch in der Realität. Denn Ereignisse, Personen, Taten und Gedanken sind zu komplex, als dass sie sich so einfach reduzieren ließen.

Fazit:

Der fünfte Band der Perfect Edition um die „20th Century Boys“ ist aufgrund seines langsameren Tempos, der künstlich erzeugten Spannung und mitunter unglaubwürdigen Entwicklungen der bislang schwächste der Reihe. Er hält jedoch so manche Informationen und Wendungen bereit, die für die Geschichte essenziell sind, und spielt erneut gekonnt mit den Erwartungen und Theorien der Leser*innen.

Naoki Urasawa: „20th Century Boys (The Perfect Edition, Volume 5)”, Geschichte in Zusammenarbeit mit Takashi Nagasaki, aus dem Japanischen ins Englische übersetzt von Akemi Wegmuller und Lillian Diaz-Przybyl, VIZ Media 2019, ISBN: 978-1-4215-9965-6


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