In den letzten Jahren schwärmte Stefanie alias Miss Booleana immer wieder von Mangaka Naoki Urasawa und seinen Reihen „Pluto“, „20th Century Boys“ und zuletzt „Monster“. So kreisten die Mangas all die Jahre zwar in meinem Bewusstsein, aber durch die Länge der Reihen hatte ich mich dann doch nie an einen Start gewagt.

Dann kam Weihnachten 2018 und damit verbunden ein Päckchen von Stefanie. In seinem Innern: der erste Band von „20th Century Boys“ in der Perfect Edition von VIZ Media, die jeweils zwei der ursprünglichen Bände der Reihe bündelt und optisch mit Transparenzschrift und poppigem Cover ein echter Blickfang ist. So wurde „20th Century Boys“ schließlich zu meiner letzten Lektüre in 2018 – und zu einem Lesehighlight! Denn der Manga bringt alles mit, was eine gute Story ausmacht, lässt sich in keine Schublade stecken und hält für alle Geschmäcker etwas bereit. Es geht um Familie, Freundschaft, Verantwortung, Träume, Mobbing, Manipulation, blinden Glauben und Macht(missbrauch). Obendrauf gibt es Sex, Crime, Gewalt, Mystery, etwas fürs Herz sowie die bösesten Zwillinge der Geschichte.

Die Story, die Naoki Urasawa gemeinsam mit Takashi Nagasaki konzipiert hat, ist entsprechend komplex. Das merkt man bereits nach den ersten Seiten: ein Mensch, der in einer Blutlache liegt, jedoch keine erkennbaren Wunden aufweist; eine Familie, die plötzlich verschwindet; eine junge Frau, die nachts aus ihrem Fenster blickt und sich einem gigantischen Roboter gegenübersieht; ein Mann, der Menschenmassen um sich schart und den alle nur „den Freund“ nennen – und dazwischen immer wieder Einblicke in das Leben des Protagonisten Kenji. In der Gegenwart des Jahres 1997 betreibt Kenji einen Konbini (24h-Markt), ist dem ständigen Gezeter seiner Mutter ausgesetzt und kümmert sich hingebungsvoll um seine kleine Nichte Kanna, nachdem deren Mutter (d.h. Kenjis Schwester) verschwunden ist. Regelmäßige Zeitsprünge führen uns zudem zurück in Kenjis Kindheit und Jugend, als er davon träumte, die Welt zu retten und die Rockmusik zu seiner ersten großen Liebe wurde.

Wie all das zusammenhängt, lässt sich zu Beginn nicht erahnen. Klar ist nur, dass all diese Ereignisse in Verbindung zueinander stehen. Im weiteren Verlauf bilden sich diese Zusammenhänge aber zunehmend deutlicher heraus, während die Handlung gleichzeitig weitere Verzweigungen einschlägt und ein immer größeres Ausmaß annimmt. Naoki Urasawa verzettelt sich dabei jedoch nie und machte es mir als Leserin leicht, trotz all dieser Verstrickungen nicht den Faden zu verlieren. Er wirft an den richtigen Stellen Fragen auf, streut geschickt hinweisende Puzzleteile ein und wechselt in Schlüsselmomenten die Szenen. Das macht Urasawa auf so geschickte Weise, dass eine permanente Grundspannung vorhanden ist und nie der Eindruck künstlich aufgebauschter Cliffhanger entsteht. Gemeinsam mit Kenji kommen wir so den Zusammenhängen, Geheimnissen und Drahtziehern auf die Spur. Stück für Stück setzen wir dieses riesige Mosaik zusammen und doch wird das weitere Geschehen nie zu vorhersehbar, wartet immer wieder mit glaubhaften Wendungen und gekonnt verwobenen Überraschungen auf.

Neben dem Storytelling überzeugt „20th Century Boys“ aber auch durch seine Figuren. Insbesondere Kenji hat einen facettenreichen Charakter, der ihn mir sehr sympathisch machte – und dem Charme des goldigen Duos Kenji und Kanna kann man sich sowieso nicht entziehen. Aber auch die Nebenfiguren hat Naoki Urasawa sehr fein und authentisch ausgearbeitet. Jede hat ihre eigene Geschichte und ihre Eigenarten. Dadurch wurde ich als Leserin nicht nur schnell mit ihnen vertraut, sondern verlor angesichts der Vielzahl an Figuren auch nie den Überblick.

Abgerundet wird dieser großartig erzählte Manga durch Urasawas feinen Zeichenstil, der nicht ganz so westlich ist wie der Stil Jiro Taniguchis, aber genauso detailreich und ausdrucksstark. Das gilt für die fotorealistischen Abbildungen von Landschaften und Gebäuden ebenso wie für die Vielzahl an Figuren. Naoki Urasawa versteht es, die Mimik jeder Figur Bände sprechen zu lassen, ohne die Gesichtsausdrücke dabei übertrieben zu zeichnen.

Darüber hinaus hat der Manga eine Menge Retro-Charme, beispielsweise wenn der Polizist ein Geburtstagsgeschenk für seinen Enkel sucht und erfährt, dass die Kids aktuell total verrückt nach „Pikabu“ seien, einem „Monster aus einer Anime-Serie“. Die Rückblenden in Kenjis Kindheit erinnern indes nicht nur an die eigene Zeit, die man mit Budenbauen und Klettern verbrachte, sondern haben den gleichen Flair, den wir auch in „Stand by Me – Das Geheimnis eines Sommers“, „ES“ oder „Stranger Things“ vorfinden.

Fazit:

Grandios! Naoki Urasawas „20th Century Boys” vereint alles, was einen perfekten Manga ausmacht: clevere Ideen, eine vielschichtige Handlung, spannendes Storytelling, authentische Figuren und einen realitätsnahen Zeichenstil. Ein absolutes Muss für alle Manga- und Comic-Leser*innen (und solche, die es werden wollen)!

Naoki Urasawa: „20th Century Boys (The Perfect Edition, Volume 1)”, Geschichte in Zusammenarbeit mit Takashi Nagasaki, aus dem Japanischen ins Englische übersetzt von Akemi Wegmuller und Lillian Diaz-Przybyl, VIZ Media 2018, ISBN: 978-1-4215-9961-8