Ist es möglich, ein ganzes Leben, ein Leben voller Trennungen, Verluste und Kriege, auf nur rund 300 Seiten zusammenzufassen? Und dabei gleichzeitig politische Entwicklungen, Zeitgeist und eine Liebesgeschichte einzufangen? Das ganze Wesen dreier Menschen bis ins Detail greifbar zu machen? Nach der Lektüre von Bernhard Schlinks Roman „Olga“ heißt die Antwort: Ja, sogar so gut, dass die Figuren und ihre Geschichten noch lange nach dem Lesen in mir nachhallen.

Die titelgebende Protagonistin begleiten wir von ihrer frühen Kindheit an bis weit nach ihren Tod, hin zu den Menschen, die sie geprägt hat. Olga wächst in einfachen Verhältnissen und nach dem Tod ihrer Eltern bei ihrer grantigen Großmutter auf. Lange ist Olga eine Einzelgängerin. Mit den Spielereien und Interessen anderer Kinder kann sie nichts anfangen. Ihre Leidenschaft gehört dem Entdecken und Wissen. Mit großer Neugier kann sie einfach nur stehen und die Welt um sich herum beobachten. Zu lernen, sich zu bilden, ist für sie ein Privileg. Mit nie nachlassendem Eifer vertieft sie sich in die Bücher, eignet sich immer mehr Wissen an. Das ändert sich auch nicht, als sie Herbert und seine Schwester Viktoria kennenlernt. Obwohl zwischen ihnen ein großer Standesunterschied herrscht, entspannt sich eine enge Freundschaft. Als Viktoria später aufs Internat geht, entdecken Herbert und Olga einander neu. Zwischen ihnen keimt eine Liebe – eine Liebe, die sie bis zum Ende ihres Lebens begleiten soll. Sie sind füreinander die erste und einzige Liebe. Dabei könnten beide kaum unterschiedlicher sein: auf der einen Seite Olga, die bescheiden, ruhig und immer in ihre Bücher vertieft ist, auf der anderen Seite Herbert, der von Großem träumt, rastlos ist und niemals geht, sondern immer nur rennt und rennt und rennt. Auch stehen die gegensätzlichen politischen Überzeugungen zeitlebens zwischen ihnen. Doch beide fühlen sich nicht ganz zugehörig zu den Menschen, die sie sonst umgeben, sind auf ihre Art und Weise Außenseiter und fühlen sich von der so ganz anderen Art des/der jeweils Anderen angezogen.

Obwohl sie einander lieben und sich verbunden fühlen, trennen sich ihre Wege immer wieder. Herbert hält es nicht in der Heimat, nicht in Deutschland, das er doch so liebt. Es bricht auf in die deutschen Kolonien in Afrika und in den Krieg, später nach Südamerika und Asien. Monate- oder gar jahrelang ist er unterwegs, für Olga hat er stets nur wenige Tage oder Wochen Zeit. Für Olga, die in ihrem Beruf als Lehrerin und Chorleiterin aufgeht, ist das in Ordnung. Sie weiß, dass ihr Geliebter die Freiheit und Weite braucht, dass sie ihn nie an einen festen Ort binden könnte – und seine Begeisterungsfähigkeit, sein ständiger Antrieb fasziniert sie. Doch muss sie sich eingestehen:

„dass die Rolle, die sie in Herberts Leben spielte, an die Rolle der Geliebten im Leben eines verheirateten Manns erinnerte.“ (S. 79)

Als Lesende war ich angesichts Olgas Gefühlen und Gedanken gegenüber Herbert immer hin und her gerissen. Es machte mich wütend, wie Herbert mit ihr umgeht, wie sich alles immer um seine Bedürfnisse und Träumte dreht, wie er Offensichtliches nicht sieht und dass er zwar in der Öffentlichkeit zu Olga steht, aber dann doch zu feige ist, sie gegen den Willen seiner Eltern zu heiraten. Doch vielleicht sieht er darin auch nur eine Ausrede, weil er unbewusst Angst hat, nach einer Hochzeit seine Freiheit aufgeben zu müssen. Olga nimmt all das nur mit einem Achselzucken hin, verliert nie die Hoffnung auf ein einfaches gemeinsames Leben, obwohl ihr bewusst ist, wie utopisch das ist. Ich habe ihr gewünscht, von Herbert loslassen zu können. Gleichzeitig bewunderte ich sie für diese ewig währende, alles überstehende Liebe. Auch ist zu betonen, dass Olga sich und ihr Leben nie von Herbert abhängig macht, ihre eigenen Entscheidungen trifft, ohne sich zu fragen, ob und wenn ja, welche Auswirkungen das auf sie und Herbert haben könnte. Sie geht ihre eigenen Wege, gibt ihrem Leben auf vielfältigste Weise einen Sinn, der von Herbert losgelöst ist. Insbesondere widmet sie ihr Leben dem beständigen Lernen, Weiterbilden und den Menschen um sie herum: Nachbarn, Kindern, dem Chor. Sie widersetzt sich außerdem den politischen Strömungen Anfang des 20. Jahrhunderts, deren verheerende Auswirkungen sie spürt, bevor der erste Weltkrieg oder später der Nationalsozialismus konkrete Formen annehmen. Offen kritisiert sie ihr ganzes Leben lang wieder und wieder den Größenwahnsinn der Menschen, insbesondere der Deutschen. Und egal, wonach Machthabende streben, welche Veränderungen ein großer Teil der Bevölkerung erwirken möchte – es ist immer viel zu groß, viel zu viel, viel zu laut und extrem. Über den erstarkenden Nationalsozialismus schreibt sie:

„Ich verstehe die neue Zeit nur allzu gut. Sie ist die alte, nur soll Deutschland diesmal noch größer werden und hat noch mehr Feinde und muss noch mehr siegen. Und das Geschrei ist noch lauter, ich höre es, obwohl ich taub bin.“ (S. 303)

„Olga“ ist damit so viel mehr als eine Lebens- oder eine Liebesgeschichte. Es ist auch eine Geschichte der Deutschen, eine Geschichte über falsche Ideale, eine Geschichte über das Gefährliche an dem ständigen Höher-Schneller-Weiter. Es ist eine Geschichte darüber, was Menschen und Nationen ausmacht – und darüber, wie sich Geschichte wiederholt.

Von all dem erzählt Bernhard Schlink auf so wenigen Seiten und in recht nüchternem, schlichten Ton. Er verliert sich nicht in Pathos, nutzt keine großen sprachlichen Bilder, hält sich nicht mit ausladenden Beschreibungen auf. Gerade dadurch gelingt es ihm aber, all diese Themen glaubhaft miteinander zu verknüpfen und bei mir als Leserin eine ausbalancierte Mischung aus kritischer Distanz und emotionaler Bindung zu den Figuren zu behalten. Stimmungen und Charakterisierung beschreibt Schlink nicht mit Worten, sondern durch Taten und Ereignisse; vieles erschließt sich uns vor allem zwischen den Zeilen. So entsteht schon nach kurzer Zeit der Eindruck, Olga, Herbert und Ferdinand – unseren Erzähler und Sohn der Familie, für die Olga als Näherin arbeitet – in- und auswendig zu kennen, zu wissen, wie sie denken, was sie fühlen. Egal, wie lang ich in „Olga“ las, meine Faszination für Schlinks Schreib- und Erzählstil und die Geschichte, die anhand einer Handvoll Menschen den Weg einer Nation über rund 100 Jahre hinweg schildert, ließ nicht nach. So ist dieses Buch eines meiner Lesehighlights in diesem Jahr und ich möchte euch diese Geschichte von Herzen empfehlen.

Fazit:

Der Klappentext spricht von einer „Geschichte der Liebe“, doch „Olga“ ist viel mehr als die Geschichte einer Liebe, die Geschichte einer Frau. Es ist das Porträt einer Nation, einer Menschheit, die nimmersatt nach Besitz, Ruhm, Macht und Größe strebt.

Bernhard Schlink: „Olga“, Diogenes 2019, ISBN: 978-3-257-24499-1