Nachdem Sabine auf Binge Reading & More begeistert über Susanna Clarkes neuesten Roman schrieb, ihn sogar als ihr Lesehighlight 2020 bezeichnete, war meine Neugier auf „Piranesi“ sofort entfacht. Wie passend, dass Steffi alias Miss Booleana, Jana von Wissenstagebuch und Matthias alias _quoth_ eben jenes Buch im Januar zu ihrem nächsten Buddy Read auserkoren – und ich mich kurzfristig dazu gesellen konnte. Das gemeinsame Lesen und der Austausch auf Twitter erwiesen sich bei diesem ungewöhnlichen Roman als ideal und unterstützend, denn „Piranesi“ stellt seine Lesenden vor ständig neue Fragen, erklärt wenig und lädt darum zum Entdecken und Aufstellen vielfältigster Theorien ein. Allein, ohne Mitlesende, hätte diese Lektüre deutlich weniger Spaß bereitet.

Wer bereits Rezensionen zum Buch gelesen hat, stieß dabei auf recht vage Inhaltsbeschreibungen. Aus gutem Grund! Dieses Buch entwickelt sich in Richtungen, die man nach den ersten Seiten nicht erwartet hätte. Das Aufstellen eigenen Theorien, Zusammensetzen von Puzzleteilen und Brüten über Rätsel macht den Reiz dieses Romans, der sich in kein Genre pressen lässt, aus. Hier zu viel zu verraten, würde euch eines ungewöhnlichen Leseerlebnisses berauben.

So möchte auch ich euch an dieser Stelle nur an den Ausgangspunkt der Geschichte führen, von wo aus ihr eure eigenen Wege durch dieses Labyrinth schlagen könnt. Denn wie ein Labyrinth ist die von Susanna Clarke geschaffene Welt wahrlich aufgebaut. Wir treffen auf Piranesi, der seit langer Zeit an einem Ort lebt, den er nur „Das Haus“ nennt. Wie er dorthin gekommen ist? Das wissen wir nicht; das weiß er selbst nicht. Doch wir erfahren, dass dieses Haus ein gigantisches Konstrukt ist, in dessen unterem Geschoss die Gezeiten wüten und in dessen oberem Geschoss Wolken schweben. Im mittleren Geschoss, in dem wir uns mit Piranesi befinden, gibt es nur eine endlos scheinende Anzahl an Hallen voller Statuen.

Ansonsten ist dieser Ort fern jeglicher Zivilisation, vollkommen isoliert und menschenleer – oder sagen wir: fast menschenleer. Außer Piranesi existieren im Haus noch „Der Andere“ und die Überreste einiger längst verstorbener Personen. Zweimal pro Woche treffen sich Piranesi und Der Andere für eine Stunde. Aber während Piranesis Äußeres an die minimalistischen Umstände im Haus angepasst ist und von Seetang und Fischgräten geziert wird, erscheint Der Andere stets in schicken Anzügen und mit Technik zu den Terminen. Das wirft Fragen in den Raum: über die Identität beider Männer, über ihr Verhältnis zueinander und darüber, was dieses Haus eigentlich ist. Wir vier haben hier die wildesten Theorien aufgestellt, verworfen, neue aufgestellt, wieder verworfen, alte Theorien wieder in Betracht gezogen. Am Ende steckte hinter allem etwas anderes, als wir anfangs vermutet hatten. Ob die Auflösung von der Autorin gut gewählt wurde, müssen alle Lesenden für sich selbst entscheiden. In unserem Lesequartett gingen die Meinungen jedenfalls weit auseinander. Ich persönlich fand die Lösung zu einfallslos und hatte etwas deutlich Originelleres mit mehr Überraschungseffekt erwartet.

Überhaupt sorgte „Piranesi“ für sehr breit gefächerte Leseeindrücke. Jana und Steffi waren begeistert, Matthias und ich hatten hingegen einige Kritikpunkte.

Die wohl größten Stärken des Romans liegen in Susanna Clarkes atmosphärischem Schreibstil, der uns von der ersten Seite an in diese andere Welt katapultiert, sowie natürlich das ungewöhnliche Setting. Das ganze Rätseln, das Entdecken „Des Hauses“ – das macht einfach Spaß. Irgendwann hatte ich aber das Gefühl, dass der Roman auf der Stelle tritt und Piranesis Tagebucheinträge verloren an Spannung. Doch genau in dem Augenblick, als bei mir Frust aufkam, wurde die Monotonie und Leere „Des Hauses“ durchbrochen. Von hier an fanden sich ständig neue Puzzleteile, die sich nach und nach zu einem Gesamtbild zusammensetzten und die Vorbehalte, die wir gegenüber „Dem Anderen“ hatten, bestätigten. Im Gegensatz zu uns blieb Piranesi aber nach wie vor unbedarft und gutgläubig, vertraute blind und hinterfragte nichts – einer jener Punkte, die Matthias und mich während des Lesens störten. Steffi sah diese Naivität darin begründet, dass Piranesi niemand anderen kennt als „Den Anderen“ und sich daher an das Vertraute klammert, seinen einzigen sozialen Kontakt nicht verlieren oder zum Feind machen möchte. Durchaus wahr – Piranesi ist, so lang er sich erinnern kann, nie von jemanden belogen oder hintergangen worden. Woher sollte er also genug Menschenkenntnis haben, um so etwas wie Skepsis aufkommen zu lassen? Und dennoch: Ist er denn nie neugierig gewesen, mehr über „Den Anderen“ zu erfahren – und sei es nur dessen Namen?

Ein weiterer Aspekt, der Matthias und mir negativ auffiel, war das Thema Homosexualität. Sexualität wird in „Piranesi“ grundsätzlich nur selten thematisiert. Doch immer, wenn Andeutungen oder Äußerungen zur Homosexualität einiger Figuren fielen, wurden diese in problematischen Kontext gesetzt: Die schwulen Figuren prostituieren sich oder andere, misshandeln, manipulieren oder bewegen sich anderweitig in der Kriminalität oder rechtlichen Grauzonen. Zwar wird nie eine 1:1-Verbindung zwischen der Sexualität und dem Verhalten der Figuren dargestellt, aber ein Beigeschmack entsteht dennoch.

Fazit:

Susanna Clarkes „Piranesi“ hat mich fasziniert, zum Staunen, Entdecken und Rätseln gebracht – aber phasenweise auch enttäuscht oder gar frustriert. Und es rief unter uns Lesenden ganz unterschiedliche Meinungen hervor. Doch wie auch immer eure Eindrücke zu diesem Buch ausfallen sollten: Gleichgültig werdet ihr dieses Buch nicht zuklappen. „Piranesi“ hat mich noch etliche Tage nach der Lektüre beschäftigt. Es hat uns vier Lesende zu intensiven Gedankenspielereien und Diskussionen angeregt. Es ist ein Buch, über das man während der Lektüre einfach sprechen / schreiben will und muss. Das prädestiniert diesen Roman wie nur wenige andere Werke der Gegenwart für eine (große) Leserunde.

Susanna Clarke: „Piranesi”, Bloomsbury Publishing 2020, ISBN: 978-1-5266-2242-6


Weitere Beiträge zur Leserunde:

Alle Eindrücke und Unterhaltungen zum gemeinsamen Lesen von „Piranesi“ findet ihr auf Twitter unter #Piranesilesen.