Inzwischen bin ich beim vierten Sammelband der „20th Century Boys“ angelangt und Band 5 ist kürzlich erschienen. Dennoch sind wir damit nicht einmal bei der Hälfte von Naoki Urasawas komplexer Story angekommen.
Im vierten Band führt Urasawa zunächst eine weitere neue Figur ein: die ziemlich verpeilte Kyoko Koizumi, die zufällig dieselbe Schule besucht wie Kenjis Nichte Kanna. Als Kyoko nach einer Konzertnacht völlig übermüdet in der Schule sitzt und nicht mitbekommen hat, dass alle Schüler*innen ein Forschungsprojekt einreichen sollen, entscheidet sie sich kurzerhand für ein Thema, das sie mal eben im Geschichtsbuch aufgeschlagen hat. Dabei handelt sich ausgerechnet um Kenji und den Bloody New Year‘s Eve. Während ganz Japan seit der historischen Silvesternacht die Großartigkeit des „Freundes“ feiert und Kenji und seine Verbündeten als Terroristen und Drahtzieher der gewaltigen Bluttat sieht, erweist sich die chaotische und ansonsten eher faule Kyoko als überraschend kritisch. Schnell erkennt sie, dass an der Geschichte, die allen verkauft wird, etwas faul sein muss. Bei ihren Recherchen für das Forschungsprojekt trifft sie auf alte Bekannte Kenjis, muss aber auch feststellen, dass die Ereignisse komplizierter sind, als gedacht – und dass das Ergründen der Wahrheit äußerst gefährlich ist.
Ihr Interesse an Kenji und dem Bloody New Year’s Eve bleibt auch dem Netzwerk des „Freundes“ nicht verborgen. Die Folge: Kyoko wird nach Tomodachi Land geschickt. Von ihrer Umgebung wird der Aufenthalt in Tomodachi Land als Ehre empfunden, handelt es sich doch scheinbar um einen Vergnügungspark, den nur Auserwählte besuchen dürfen. In Wahrheit verfolgt Tomodachi Land aber ein ganz anderes Ziel: pure Gehirnwäsche, die Kritiker*innen und Zweifelnde zu gehorsamen Anhänger*innen des „Freundes“ machen soll.
Im Zuge von Kyokos Recherchen lüftet Naoki Urasawa auch den Schleier um die Geschehnisse in der blutigen Silvesternacht. Zwar bleiben auch nach dem vierten Sammelband Fragen über die tatsächlichen Ereignisse offen und es gibt noch so manches Geheimnis zu lüften, aber wir wissen nun, wie die Massenmorde des „Freundes“ gestoppt wurden und warum wir im Jahr 2014 kaum jemanden von Kenjis alter Truppe getroffen haben.
Urasawa hat die Rückblenden – wie schon in den Vorgängerbänden – geschickt eingeflochten. Er erzählt immer nur so viel, wie gerade notwendig ist und lässt genug Raum, um im weiteren Verlauf noch mit so mancher Enthüllung um die Ecke zu kommen. Das birgt manchmal sogar positive Überraschungen, wenn wir auf alte Bekannte treffen.
Sehr anschaulich und unheimlich hat der Mangaka auch das Tomodachi Land dargestellt. Der vermeintliche Vergnügungspark zeigt hervorragend auf, zu welch manipulativem Überwachungsstaat sich Japan unter der Regierung der Friendship Democratic Party entwickelt hat. Faszinierend und gruselig zugleich fand ich die Virtual Reality-Aktionen, die in Tomodachi Land stattfinden. Diese konfrontieren Kyoko und die anderen „Spieler*innen“ mit Szenen aus der Kindheit von Kenji, Otcho und dem Rest der Truppe. Die Detailgenauigkeit und dass dabei auch Ereignisse aufgegriffen werden, die nur ein kleiner Teil der Gruppe erlebte, machen deutlich, wie eng der „Freund“ damals zur Clique gehört haben muss. Während ich die damit verknüpften Rückblicke in die Kindheit genoss, fand ich es zugleich extrem widerwärtig, wie derart unschuldige Erinnerungen von dem „Freund“ zur Manipulation missbraucht wurden.
Was Kyoko Koizumi betrifft, war ich anfangs skeptisch, ob die Einführung einer weiteren Figur wirklich notwendig gewesen wäre. Hinzu kam, dass ich Kyoko anfangs als recht anstrengend empfand. Im weiteren Verlauf ist sie mir mit ihrer forschen und direkten Art aber doch noch ans Herz gewachsen und sie ist wieder einmal ein Beispiel dafür, was für toughe Frauenfiguren Urasawa erschafft und wie sehr diese die Handlung tragen. Dass sie – neben dem Mangazeichner Kakuta – die bislang einzige ist, die sich auf die Seite von Kenjis Gruppe stellt, obwohl sie keine direkte Verbindung zu den damaligen Ereignissen hat, empfand ich ebenfalls als spannend und bereichernd.
Dennoch hielt der vierte Sammelband für mich nicht so viele überraschende oder gar sprachlos machende Momente bereit wie die Vorgänger. Schade fand ich insbesondere, dass die in Band 3 gestarteten Handlungsstränge um Otcho und Kakuta sowie um Kanna und Chono nur kurz aufgegriffen werden. Doch vermutlich wird Urasawa das im fünften Sammelband wett machen und mit so manchen unerwarteten Ereignissen aufwarten.
Fazit:
Gemessen an den Vorgängern konnte der vierte Sammelband der „20th Century Boys“ auf mich eine nicht mehr ganz so große Sogwirkung entfalten. Das resultiert aber vor allem aus den Erwartungen, die die Genialität der Reihe zuvor aufgebaut hat. Verglichen mit anderen Mangas, Comics, Romanen bietet auch der vierte Sammelband beste Erzählkunst.
Naoki Urasawa: „20th Century Boys (The Perfect Edition, Volume 4)”, Geschichte in Zusammenarbeit mit Takashi Nagasaki, aus dem Japanischen ins Englische übersetzt von Akemi Wegmuller und Lillian Diaz-Przybyl, VIZ Media 2019, ISBN: 978-1-4215-9964-9
Dass die Begeisterung irgendwann verglichen zum Erlebnis mit den Vorgänger-Bänden etwas nachlässt, habe ich beim ersten Lesen der Reihe auch so erlebt. Ich war da aber noch Teenager und immer regelrecht frustriert, wenn sich die Auflösung eines Geheimnisses oder Erzählstrangs aufschiebt. Heute empfinde ich das nicht mehr ganz so stark – man reift wohl als Leser. Aber wir würde es wahrscheinlich mindestens so wie dir gehen, wenn ich es jetzt das erste Mal lese. Bzw. fühlte es sich vorletztes/letztes(?) Jahr für mich auch so an als ich „Monster“ las, wo Urasawa im Grunde genauso vorgeht. Ich schätze, dass das die Schwierigkeit so langer Reihen ist. Das kann alles in bester Manier gemacht sein und mit guten Intentionen, aber irgendwo unterwegs geht dann eben doch mal dieses Feeling verloren. Aber ich verspreche, dass es wiederkommt!
Ich habe keine Zweifel, dass Urasawa mich wieder einfängt. :)
Mich stört es tatsächlich auch nicht, dass Geheimnisse lange unaufgeklärt bleiben und man sich nur in kleinen Häppchen der Wahrheit annähert. Aber langsam werden es mir, glaube ich, zu viele Nebenstränge und neue Charaktere. Ich habe tatsächlich immer ein Problem damit, wenn in Serien (egal, ob Manga, Comic, Buch oder TV) ständig neue Figuren eingeführt werden und alles bis dahin Geschehene (und noch Offene) zu stark in den Hintergrund gerät. Für mich bekommt eine Geschichte dann immer schnell den Beigeschmack, dass hier etwas künstlich konstruiert und in die Länge gezogen wird, weil die Macher selbst noch unsicher sind, wie es mit der Geschichte eigentlich weitergehen soll, aber trotzdem etwas abliefern müssen.
Bei den 20th Century Boys hält sich dieses Gefühl bisher aber sehr im Rahmen, aber wenn ein Band nach dem anderen so flasht, ist es wohl nur normal, dass die Begeisterung irgendwann doch mal ein wenig abflaut bzw. die entstandenen hohen Erwartungen nicht mehr gänzlich erfüllt werden. Das ist halt immer gemessen an den Vorgängerbänden. Für sich allein stehend betrachtet bzw. im Vergleich mit Nicht-Urasawas war auch dieser Band großartig. :) Dennoch beruhigt es mich, dass es dir ähnlich ging – zwischenzeitlich hatte ich mich nämlich gefragt, ob ich den vierten Band einfach zu einem schlechten Zeitpunkt gelesen habe und mich dadurch nicht so recht drauf einlassen konnte.