Der dritte Sammelband um Naoki Urasawas „20th Century Boys“ macht es mir nicht leicht, über ihn zu schreiben. Zum einen ist da das übliche Problem von Rezensionen über Fortsetzungen: Was kann man über die Handlung schreiben, ohne zu spoilern? Zum anderen nimmt die Story im dritten Teil der Perfect Edition so viele neue Fäden, Nebenstränge und Perspektiven auf, dass es unmöglich ist, all dem in ein paar Zeilen gerecht zu werden.
Grob zusammengefasst erzählt der dritte Band von dem Versuch Kenjis, die angekündigte Katastrophe zu Silvester 2000 aufzuhalten, und von der Zukunft nach dieser Horrornacht. Dabei gibt es auch ein ausführliches Wiedersehen mit den inzwischen erwachsenen und wirtschaftlich sehr erfolgreichen Brüdern Yanbo und Mabo. Die einst bösesten Zwillinge der Geschichte haben sich nicht nur optisch extrem verändert, sondern geben sich nach außen hin deutlich respektvoller und höflicher. Es scheint sogar, als glauben sie selbst daran, gute Menschen zu sein. So sind sie der Auffassung, dass die von ihnen einst gedemütigten und verprügelten Kids eine Menge Spaß mit ihnen hatten. Und als das Gespräch auf den gemobbten Sohn eines Mitarbeiters kommt, wundern sich Yanbo und Mabo, was denn nur in den Schulen falsch läuft und betonen, dass so etwas verboten sein müsste. Man könnte über diesen Widerspruch fast lachen, würde es sich nicht um ein so ernstes Thema handeln.
Darüber hinaus begegnen wir dem jungen Detective Chono, dessen Großvater in Tokio ein regelrecht legendärer Polizist war und auch uns Leser*innen nicht unbekannt ist. Zu sehen, wie scheinbar nebensächliche Handlungsstränge später wieder aufgenommen und geschickt mit den übrigen Ereignissen verwoben werden, macht nicht nur eine Menge Spaß, sondern zeugt auch davon, wie komplex und durchdacht Urasawas „20th Century Boys“ sind.
Apropos komplex: Von den diversen Theorien, die man in den beiden Vorgängern aufstellte, kann man im dritten Volume einige auf den Prüfstand stellen. Gleichzeitig lassen sich neue Überlegungen anstellen. Manche Fragen bleiben jedoch vorerst unbeantwortet. So begleiten wir zunächst Kenji, der von seinen alten Freunden im Kampf gegen den „Freund“ unterstützt wird – bis der Schreckenstag des 31. Dezembers 2000 kommt. Hier macht Urasawa einen großen Sprung in die Zukunft, genauer gesagt ins Jahr 2014. Was mit Kenji und seinen Freunden passierte, wissen wir nicht. In Rückblicken erfahren wir lediglich, dass der Tag als „Bloody New Year‘s Eve“ in die Historie einging und dass der „Freund“ seine Macht in Japan noch weiter ausgebaut und gefestigt hat.
Dabei zeigt sich immer wieder, dass man niemandem trauen kann. Vor allem die Polizei ist stark von den Anhängern und Mittelsmännern des „Freundes“ infiltriert. Japan ist zu einem totalitären Staat mit einem Führerkult um den „Freund“ geworden. In diesem Land steht jeder unter Beobachtung. Kultur, die nicht regime-konform ist, gilt als verboten. Wie ernst und dystopisch die Situation ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Mangaka und andere Kunstschaffende auf die gleiche Weise bestraft werden wie Mörder: 80 Jahre Haft in einem isolierten Hochsicherheitsgefängnis, das stark an Alcatraz erinnert. Dort erwartet die Häftlinge gleich auf mehreren Ebenen Gewalt. Da ist einerseits die Bedrohung durch die verschiedenen Banden, die sich im Gefängnis gebildet haben; andererseits gehören auch Brutalität und Entwürdigung durch die Gefängnismitarbeiter zum Alltag. All das hat Naoki Urasawa in heftige Szenen gepackt, die beängstigend realistisch und authentisch sind.
Im dritten Sammelband zeigen sich zudem wieder deutlich Urasawas Stärken in der Charakterisierung und visuellen Darstellung der Figuren. Nicht nur treffen wir ausnahmslos auf vielschichtige Protagonisten und Antagonisten, sondern können auch eine glaubhafte Weiterentwicklung der vertrauten Figuren verfolgen. So ist der einst fröhliche Kenji nach all den Jahren im Untergrund und mit der Last, die er auf seinen Schultern trägt, deutlich ernster und ruhiger geworden. Und die in jeglicher Hinsicht schlagfertige, mutige Yukiji ist vom Leben gezeichnet, demütig und um Unauffälligkeit bemüht. Damit stößt sie auf Kritik bei der inzwischen 17-jährigen Kanna, für die sie die Verantwortung nach dem Bloody New Year‘s Eve übernahm. Entgegen Yukijis Warnungen hört Kanna immer wieder laut und unbesorgt die alten Songs ihres Onkels, den sie wie einen Helden verehrt, der von der Öffentlichkeit aber als Terrorist gelabelt wurde. Doch Kanna scheut grundsätzlich keinen Ärger: Sie arbeitet in einem Restaurant in einer der gefährlichsten Gegenden Tokios, interveniert in die Kleinkriege der verschiedenen Mafias, lässt Polizisten unverhohlen ihren Hass spüren und ist auch sonst alles andere als unauffällig. Kanna weiß sich durchzusetzen, ist unabhängig, schonungslos direkt, aber zugleich auch ungemein großherzig.
… Ja, Frauenfiguren kann Urasawa verdammt gut. Wenngleich die Reihe „20th Century BOYS“ heißt, können die Frauen den Männern hier nicht nur das Wasser reichen, sondern retten ihnen so manches Mal den Allerwertesten und tragen wesentlich zum Fortgang der Handlung bei. Dabei adressiert Urasawa die Themen Gleichberechtigung und Gender Stereotypes ganz offen. Als Kenji seine alten – männlichen – Freunde zusammenführt, um gemeinsam gegen den „Freund“ vorzugehen, steht Yukiji unangekündigt auf der Matte und konfrontiert Kenji mit dem Vorwurf, nur deshalb ausgeschlossen zu werden, weil sie eine Frau ist und erinnert daran, dass sie schon in ihrer Kindheit stärker war als ihre Freunde.
Neben all der Action, der Brutalität und dem politischen Horrorszenario kommen aber auch die Emotionen nicht zu kurz. Nachdem Urasawa in den vorangegangenen Kapiteln die Basis für die besondere Beziehung zwischen Kenji und seiner Nichte Kanna legte, präsentiert er uns im dritten Sammelband gleich zwei herzzerreißende, tränenreiche Abschiede zwischen Kanna und Kenji, bei denen ich wirklich arg mitgelitten habe.
Fazit:
Ich weiß nicht mehr, was ich erwartet habe, als ich damals mit den „20th Century Boys“ begann – ganz sicher aber niemals das, was Naoki Urasawa mir tatsächlich präsentiert. Die Story schlägt immer neue, sich ständig stärker verzweigende Wege ein, die sich niemals vorhersehen lassen. Dabei wird die Handlung zunehmend politischer und gesellschaftskritischer, lässt aber auch Humor, Emotionen und Charakterentwicklungen nicht zu kurz kommen. Ich wage daher schon jetzt zu behaupten, dass „20th Century Boys“ die wohl beste und vielschichtigste Dystopie ist, die ich kenne.
Naoki Urasawa: „20th Century Boys (The Perfect Edition, Volume 3)”, Geschichte in Zusammenarbeit mit Takashi Nagasaki, aus dem Japanischen ins Englische übersetzt von Akemi Wegmuller und Lillian Diaz-Przybyl, VIZ Media 2019, ISBN: 978-1-4215-9963-2
Uiuiui, „die wohl beste und vielschichtigste Dystopie“ – da bin ich aber sehr sehr froh, dass du so empfindest! Ich kann mich noch erinnern, dass ich die Zeitsprünge beim ersten Mal Urasawa lesen auch als etwas frustrierend empfunden habe. Vielleicht noch nicht hier … . Aber an anderer Stelle auf jeden Fall. Aber ich denke es spricht tatsächlich auch für ihn und sein planerisches Talent, dass er nach all den Jahren so einige Wege zusammenführt. Kenji und der Polizei-Opa haben sich ja beispielsweise nie getroffen (wenn ich mich recht erinnere, oder vielleicht für ein kurzes Verhör?) , aber ihre Sprösslinge haben so den einen oder anderen Konflikt auszustehen. Sogar ziemlich derbe.
Dass aber soviel Handlung zwischen geschoben ist (bevor man sieht, was am Bloody New Years Eve passiert ist), daran konnte ich mich nicht erinnern und hätte es als viel weniger eingeschätzt. Umso effektiver ist natürlich das Spiel mit unseren Erwartungen. Vielleicht entstand bei mir auch der Eindruck, weil es in der japanischen Verfilmung (die einen Tick trashig ist) nahtlos weitergeht.
in jedem Fall finde ich es wieder sehr spannend die Eindrücke durch deine Brille zu sehen :D
Ja, die Zeitsprünge stören mich tatsächlich gar nicht so sehr. Im zweiten Band war ich noch extrem irritiert, als wir plötzlich Jahre später in Bangkok waren. Ich hatte lange darauf gewartet, dass die Story noch einmal einen ausführlichen Sprung zurück macht. Der kam so zwar nicht, aber zumindest wurden die wesentlichen Entwicklungen und Ereignisse häppchenweise serviert. Sie kamen immer in den richtigen Augenblicken und ich habe bisher auch nichts wirklich vermisst, es aber trotzdem spannend gefunden, diese Phase der Machtübernahme wirklich mitzuverfolgen, statt nur rückblickend Infos zu erhalten. Im dritten Band jetzt hat mich dieser Sprung dagegen nicht gestört. Ich habe Kenji nach dem Zeitsprung vermisst, aber Kannas Auftritte haben das wett gemacht. ;)
Stimmt, die Wege von Kenji und dem Polizisten kreuzten sich nie – aber man merkte beim Lesen der Geschichte um den Fast-Pensionär schon, dass es sich um eine besondere Figur handelt und sie bleibt im Kopf. Vielleicht wurde Chono auch eingeführt, weil die damaligen Leser den Großvater so mochten?
Die Verfilmung möchte ich auch gern noch sehen, auch wenn ich schon „geimpft“ bin, dass sie nicht sooo gut ist. (Aber um ehrlich zu sein: Bei der Vorlage kann doch jede Verfilmung nur verlieren, oder?! XD )
Dass Chono eingeführt wurde, weil die Leser den Opa mochten ist gar nicht so abwegig. Solange Manga in Magazinen erscheinen, beeinflussen ja die Redakteure die Handlung bzw sogar auch Leser-Umfragen. Da kann es schon mal sein, dass sich der Zeichner letzten Endes danach richtet … oder richten muss. Kennst du den Manga „Bakuman“? Da wird die Szene ganz gut beleuchtet.
Ich glaube auch, dass da jede Verfilmung dagegen abstinkt ;) Aber gerade die Verkörperung Kenjis und Ochos ist gar nicht so übel. Muss mal weitergucken …
Bakuman kenne ich bisher nur vom Hörensagen…
Und ich möchte endlich Internet und die 20th Century Boys auch einmal sehen *seufz*