„Alles, was wir seh’n und schau’n, ist nur ein Traum in einem Traum …“ Mit diesen legendären Worten Edgar All–, Verzeihung, Perla La Gadeons leitet Lindwurm Hildegunst von Mythenmetz sein neuestes Werk „Der Bücherdrache“ ein und stellt die Frage nach dem Unterschied zwischen einem Traum und einer Geschichte. Einen seltsamen Traum habe der zamonische Schriftsteller gehabt, der ihn zurück in die Katakomben Buchhaims führte. Einen Traum, der ihn in ein Buch hineinzieht, in welchem er in ein weiteres Buch gezogen wird, anschließend durch einen Spiegel geht und eine Geschichte des Buchlings Hildegunst Zwei hört. Das klingt verwirrend, ich weiß. Aber seit wann sind Träume nicht konfus? Oder war das alles vielleicht gar kein Traum? Ist vielleicht auch „Der Bücherdrache“ nur ein Traum oder eine Fiktion aus der Feder des Übersetzers Walter Moers? Wer weiß das schon. Und am Ende ist das vielleicht auch egal, wenn alles, was wir sind und scheinen, sowieso nur ein Traum in einem Traum ist …

Doch kommen wir zur eigentlichen Geschichte in diesem Buch im Buch im Traum im Buch. Ausnahmsweise ist dieses Mal nicht der große zamonische Schriftsteller unser Protagonist, sondern der nach ihm benannte Buchling. Damit haben wir prompt zwei ungewöhnliche Fälle: 1) Buchlinge lesen und rezitieren nur, aber nie(!) werden sie selbst zu Geschichtenerzählern. 2) Buchlinge halten sich vorwiegend in und in unmittelbarer Nähe zur Ledernen Grotte auf. Reisen oder Ausflüge in entlegenere Gegenden unternehmen sie selten. Aber nun steht Hildegunst Zwei vor seinem Namenspaten und erzählt eine abenteuerliche Geschichte, die nicht nur ohne literarische Vorlage ist, sondern dir er auch selbst tief in den Katakomben, im sogenannten Ormsumpf, erlebte.

Fasziniert von dem Mythos des Bücherdrachens Nathaviel (alias Elivathan, Thanaviel, Levanthia, Ilathevan oder auch Ormdrache), inspiriert von einer Schulaufgabe und angestachelt von älteren Buchlingen bricht der junge Hildegunst Zwei eines Tages spontan zum Ormsumpf auf. Im Gepäck hat er nichts außer einer Frage, die er gern vom Bücherdrachen beantwortet hätte. Denn Nathaviel ist nicht einfach irgendein Drache. Man sagt, seine Schuppen seien Bücher und sein ganzer Körper sei vom Orm durchströmt. Im Laufe der Jahrhunderte habe er alles Wissen aus den Büchern aufgesogen und immer wieder machten sich Wissenschaftler, Abenteuer und Denker auf, um ihn um Rat zu bitten oder sich Antworten auf die großen Fragen Zamoniens zu holen. Doch all das ist schon lange her und zunehmend macht sich der Glaube breit, dass es sich bei Nathaviel nur um eine Legende handelt, der Drache aber gar nicht (mehr) existiert.

Wie immer steckt auch hinter diesem Mythos etwas Wahrheit und schon bald steht Hildegunst Zwei dem Ormdrachen gegenüber. Oder besser gesagt: Er ist eingekesselt von ihm. Denn der Drache hat Ausmaße, die der kleine Buchling nicht einmal im Ansatz erfassen kann, doch spürt er, dass Nathaviels Körper einen vollständigen Kreis um Hildegunst Zwei gezogen hat. Und nun? Ist Nathaviel wirklich das kluge Orakel, eine einsame Seele oder doch nur darauf aus, den Buchling zu verschlingen? Da eine Flucht unmöglich ist und ein Angriff gegen einen so monströsen Drachen purer Leichtsinn wäre, greift Hildegunst Zwei auf die nächstbeste Taktik zurück: Konversation. Über die Umwege von Moers, Mythenmetz und Hildegunst Zwei erfahren wir die wahre Geschichte des Ormdrachens. Eine weitere Geschichte in dieser Geschichte in einem Buch in einem … ach, lassen wir das.

Über den Bücherdrachen und Hildegunst Zweis Zeit im Ormsumpf möchte ich an dieser Stelle aber nichts weiter verraten. Stattdessen möchte ich den Platz nutzen, um zu sagen, wie sehr ich die Zeit mit dem kleinen Buchling genoss. Hildegunst Zwei steht in seiner Erzählkunst seinem Namenspaten in nichts nach. Es passiert innerhalb des Buches verhältnismäßig wenig, aber trotzdem bekam ich das Gefühl, mit dem kleinen Buchling eine lange Reise gemacht zu haben. Das liegt nicht zuletzt an der Atmosphäre, die Hildegunst Zwei beim Erzählen schafft. Auf ganz sinnliche und detaillierte Weise schildert er uns den Ormsumpf und Nathaviel. Es dauerte nicht lang, bis ich den matschigen Sumpf unter den Füßen spürte und bei jedem Schritt eine Art Schmatzen hörte, bis die stickige, stinkige Luft schwer in meinen Lungen lag oder ich den muffigen, warmen Atem Nathaviels wahrnahm. Und dann erst Hildegunst Zweis Beschreibungen der Bücher! Dicke Folianten mit Goldbeschlägen wohin der Buchling sah und trat: im Ormsumpf verrottend und an nahezu jedem Zentimeter von Nathaviels Körper. Als bibliophiler Mensch oder sonstige, buchliebende Lebensform im Ormsumpf zu wandeln, bringt gleichzeitig ekstatische Freude über all diese Schätze und Herzbluten über das Verrotten selbiger.

Mit den Illustrationen und Beschreibungen der Bücherberge im Ormsumpf, dem ormdurchströmten Nathaviel, den Geschichten in Geschichten, den unzähligen Anagrammen und den literarischen Querverweisen ist „Der Bücherdrache“ endlich wieder eine liebevolle Hommage des Duos Mythenmetz/ Moers an das Erzählen, die Sprache und die Bücher. Allein das Entdecken der rhetorischen Spielereien und Anspielungen auf die großen Werke der Literatur bereite mir eine immense Freude. All das einmal aus der Perspektive des liebenswerten und jungen Buchlings geschildert zu bekommen, verlieh der Umsetzung zudem etwas angenehm Leichtes und Unbedarftes.

Ich war allerdings überrascht, wie zurückhaltend der große Hildegunst von Mythenmetz während der Ausführungen des Buchlings war – Mythenmetz, der sich doch sonst so in Abschweifungen verliert und ganze Epen über Kleinigkeiten verfassen kann, ist erstaunlich still und wortkarg. Das war ungewohnt, aber durchaus auch angenehm, da somit alle Aufmerksamkeit (zurecht) auf dem kleinen Buchling lag. Dennoch habe ich das gelegentliche Gemecker und die Abschweifungen des Lindwurms hin und wieder vermisst.

Darüber hinaus hätte dem Roman dramaturgisch im letzten Drittel durchaus ein wenig mehr Tempo, Variation und Raffinesse gutgetan. So sehr ich das Buch an sich genoss, merkte ich doch, dass kurz vorm Ende ein wenig die Luft raus war. Das Ende selbst war für meinen Geschmack zudem zu einfach umgesetzt. Hier hätte ich mir mehr Überraschungen und Unerwartetes gewünscht, beispielsweise eine Entwicklung oder Offenbarung, die mich den Bücherdrachen oder alles Erlebte noch einmal aus einem ganz anderen Licht betrachten ließe.

Fazit:

Walter Moers‘ „Der Bücherdrache“ hätte gegen Ende zwar durchaus ein wenig Feinschliff vertragen können, ist aber eine schöne Liebeserklärung an das gesprochene und geschriebene Wort und eine kleine Schatztruhe für Bibliophile.

Walter Moers: „Der Bücherdrache“, Penguin Verlag 2019, ISBN: 978-3-328-60064-0