Die junge Mary schreibt einen Brief. An wen, wissen wir nicht. Aber es gibt etwas, das sie unbedingt erzählen muss, etwas, das zu sagen, ihr schwerfällt und das sie doch nicht für sich behalten möchte. Und weil Dinge nie aus sich heraus passieren, sondern auf Vorangegangenes aufbauen, beginnt Mary ihre Geschichte ganz am Anfang, da, wo jede gute Geschichte beginnt. Sie blickt zurück auf ihre Kindheit, die eigentlich keine gewesen ist: Gemeinsam mit ihren Schwestern schuftet sie sich seit Jahr und Tag auf dem Bauernhof und Feldern der Familie ab. Dabei stehen sie immer unter dem strengen Blick des Vaters, der vor Schlägen nicht zurückschreckt und für den der Ertrag das einzige ist, das zählt. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang wird ohne Pause gearbeitet. Vermutlich würde der Vater die Töchter auch nachts schuften lassen, hätte er nicht festgestellt, dass sie am nächsten Tag besser arbeiten, wenn sich ihre Körper in der Nacht erholten. Dennoch ist ihm die Leistung der Töchter nie genug – einfach, weil sie Frauen sind. Jahr für Jahr zürnt der Vater, dass ihm das Leben nur Töchter und keinen einzigen Sohn geschenkt hat. Und dann auch noch ein Kind wie Mary: mit einem krummen Bein, einer direkten, forschen Art zu reden, einer blassen Haut und Haar in der Farbe von Milch. In seinen Augen taugt Mary daher weder als zukünftige Ehefrau noch als Arbeiterin auf dem Feld.

Eines Tages bittet der Pfarrer des Dorfes den Bauer darum, eine seiner Töchter als Hilfe einstellen zu können. Der Bauer zögert nicht und entsendet Mary zur Pfarrersfamilie – auf dem Hof ist sie schließlich keine große Hilfe und das regelmäßige Geld kann die Familie gut gebrauchen.

Lange zeigt sich Mary widerspenstig und kritisiert alles im Haus des Pfarrers, obwohl es ihr dort besser ergeht als bei ihrer Familie. Mary kümmert sich täglich um die schwerkranke Frau des Pfarrers, die das Mädchen trotz (oder wegen?) seiner schonungslos offenen Art schnell ins Herz schließt. Die Arbeit ist dabei weniger anstrengend als auf dem Feld und zwischendurch gibt es tatsächlich Minuten, in denen Mary auch einmal Pause machen kann – etwas, das dem Mädchen völlig fremd ist. Sie bekommt sogar neue Kleidung und schläft zum ersten Mal in ihrem Leben allein in einem Bett.

So scheint es, dass sich Marys Leben zum Besseren wendet. Doch ihrem Brief können wir immer wieder entnehmen, dass ihr etwas Schlimmes widerfahren ist.

Was ihr zugestoßen ist, berichtet Mary aber tatsächlich erst im letzten Viertel des Buches. Bis dahin erleben wir den gängigen Alltag des Mädchens in all seinen Routinen, Alltäglichkeiten, kleinen und großen Sorgen. Nach Lesen des Klappentextes kann sich allerdings jede*r denken, was Mary passieren wird und worauf die Geschichte hinausläuft.

Genau das ist auch das große Problem, das ich mit dem Roman der derzeit viel gelobten Nell Leyshon habe: Er kann nicht überraschen, erzählt nichts, was wir nicht schon tausendfach gelesen und gesehen haben. Ich wartete und wartete auf das angekündigte Ereignis, dessen Natur ich eh schon kannte und das ich aufgrund des Klappentextes als Aufhänger einer sich größer entfaltenden Geschichte vermutete. Tatsächlich passiert in den ersten drei Vierteln ziemlich wenig und schon gar nichts Spektakuläres. Das ist an sich nichts Schlimmes, aber irgendwann stellte sich mir die Frage, worauf Nell Leyshon jetzt endlich hinauswill und ich wurde zunehmend ungeduldiger. Als das von Mary mehrfach angekündigte Erlebnis schließlich eintritt, ist die Geschichte auch schon kurz darauf vorbei. „Die Farbe von Milch“ wirkt daher wie ein zielloses Vorspiel, das viel zu lange dauert, sodass für den eigentlichen Akt keine Zeit mehr bleibt. Am Ende saß ich enttäuscht vor dem Hörbuch und dachte nur: „Das war’s jetzt?“

Dabei hat „Die Farbe von Milch“ grundsätzlich eine Menge Potenzial. Mary ist eine sehr facettenreiche und interessante Figur, deren Leben ich gern verfolgt habe. Bei den Nebenfiguren werden indes viele Fäden aufgenommen und miteinander verstrickt, um dann lose fallen gelassen zu werden. So hätte Nell Leyshon beispielsweise die Geschichten um Marys Großvater oder den Pfarrerssohn deutlich ausbauen können.

Sprachlich überzeugt Nell Leyshon dagegen sehr. Ihr Stil ist schnörkellos, kurz und treffend. Damit passt er perfekt zu Marys Charakter und ihrer Art, alles offen auszusprechen. In der Hörbuchversion hat Laura Maire diese forsche, unverblümte Art gekonnt eingefangen. Ihre Stimme changiert zwischen jugendlicher Leichtigkeit und einer ernsten Weitsicht, wie sie auch in Marys Charakter zu finden sind. „Die Farbe von Milch“ ist daher an sich ganz nett zu hören bzw. zu lesen, dramaturgisch aber leider misslungen.

Fazit:

Für eine längere Reise ist Nell Leyshons „Die Farbe von Milch“ nicht die schlechteste Wahl. Wer den Roman nicht liest/ hört, hat allerdings auch nichts verpasst.

Nell Leyshon: „Die Farbe von Milch“ (Hörbuch, gelesen von Laura Maire), aus dem Englischen übersetzt von Wibke Kuhn, Random House Audio 2019, ISBN: 978-3-8371-4276-1