Sechs Wochen habe ich für Dostojewskijs „Verbrechen und Strafe“ gebraucht. Ich kann mich nicht entsinnen, dass ich ein rund 1000-seitiges Werk jemals in so kurzer Zeit gelesen habe. Das hat allerdings weniger mit dem Roman selbst, als vielmehr mit dem intensiven und anspornenden Austausch gelegen, den Miss Booleana, Jana von Wissenstagebuch, voidpointer und ich auf Twitter pflegten.

Wie ihr schon meinem Zwischenbericht zu den ersten drei Teilen entnehmen konntet, hinterließ Dostojewskijs großer Roman bei mir gemischte Eindrücke. Einerseits werden wichtige, spannende Fragen und Theorien aufgegriffen und auch der Schreibstil ist erstaunlich leicht gehalten und dank Swetlana Geiers hervorragender Übersetzung sehr angenehm zu lesen. Andererseits machten mich manche Weltbilder regelmäßig wütend, hinterließ das Verhalten vereinzelter Figuren bei mir lange Zeit viele Fragezeichen und auch dramaturgisch war der Roman anders als erwartet. Angesichts des Themas und der Ereignisse rechnete ich ursprünglich mit deutlich mehr Suspense und inhaltlicher Dichte. Tatsächlich wird in „Verbrechen und Strafe“ aber vor allem viel geredet – mal mehr, mal weniger gehaltvoll – und es passiert gemessen an der Seitenzahl recht wenig.

In der zweiten Hälfte des Buches verfolgten wir wieder und wieder, wie Raskolnikow zwischen Vorsicht und Wahnsinn wechselt. Er fürchtet, dass seine Schuld ans Licht kommt. Gleichzeitig lenkt er die Aufmerksamkeit aber immer wieder bewusst auf sich selbst, legt sogar Geständnisse ab, die jedoch folgenlos bleiben, da sie von seinem Gegenüber als Scherz oder Hypothese wahrgenommen werden. Am Ende des Buches weiß eigentlich schon so ziemlich jeder über seine Tat Bescheid, weil dann doch alle 1 + 1 zusammenzählen können oder Rodja sich ihnen anvertraute.

Wer allerdings meint, Raskolnikow könnte etwas wie Reue empfinden, der irrt. Zwar steht er offen zu seiner Schuld an der Tat, sieht in dieser selbst aber kein Verbrechen. Vielmehr bereut er, dass seine Tat nicht so ablief, wie er es sich im Vorfeld in seiner Fantasie ausmalte. Er muss erkennen, dass er wohl doch kein Napoleon oder Übermensch ist, der durch skrupellose Taten zu Ruhm und Anerkennung kommt und die Welt zum vermeintlich Besseren verändert. Seine Theorie, die er einst in einem Artikel publik machte, ging für ihn nicht auf. Doch er hält weiterhin daran fest.

Raskolnikow hat mich also oft genug zur Weißglut getrieben und meine Nerven strapaziert. Dass er und der ermittelnde Staatsanwalt (dessen Namen ich nicht aussprechend und mir daher einfach nicht merken kann) sich die ganze Zeit etwas vormachen und vorsichtig an der Oberfläche der Wahrheit kratzen, obwohl beide wissen, was in dem jeweils anderen vorgeht, war zusätzlich ermüdend. Nur zu gern hätte ich eingegriffen und dem wiederholten, sich im Kreis drehenden Palaver ein Ende bereitet.

Überhaupt verfolgten wir viele, lange Gespräche, die nicht immer zur Handlung oder Charakterisierung der Figuren beitrugen und die Dostojewskij in weniger Zeilen besser auf den Punkt gebracht hätte. Ironischerweise betonen viele Figuren ständig, dass sie keine Zeit haben, in wenigen Minuten woanders erwartet würden – nur um dann doch eine halbe oder ganze Stunde mit ihrem Gegenüber zu plaudern. Stille Menschen wie Rodja oder Sonja sind die Ausnahme und werden – auch für diese Schweigsamkeit – als Eigenbrötler und merkwürdig angesehen.

Langweilig wird der Roman aber dennoch nicht. Es gibt vereinzelte Szenen, in denen Tempo und Dramatik stark anziehen. Plötzlich geht es auch um Themen wie Suizid, Aufopferung und Vergebung. Zeitgleich entspannt sich zwischen Sonja und Rasumichin, dem einzig vernünftigen Mann des Romans, eine zarte Liebesgeschichte, die zu verfolgen einfach allerliebst ist und so etwas wie einen Hoffnungsschimmer in die ansonsten tragischen Schicksale bringt.

Was den Roman in seiner zweiten Hälfte für mich aber vor allem ausmachte, sind die vielen Situationen und Figuren, über die sich vortrefflich aufregen lässt. Neben Rodjas krudem Weltbild, das Menschen in zwei Gruppen teilt (die Gewöhnlichen und die über dem Gesetz Stehenden), ist es vor allem der Chauvinismus, den viele Männer in der Geschichte an den Tag legen, der sprachlos vor Wut macht. Ganz vorne mit dabei ist Luschin, Rodjas Schwager in spe. Der ist nicht nur davon überzeugt, dass seine zukünftige Ehefrau ihm hörig und ewig dankbar sein müsse, sondern lässt auch keine Intrige aus, um den Ruf und das Leben anderer zu zerstören. Klar, dass er auch sonst der Ansicht ist, über allem und jedem zu stehen. Mit seiner höchlichst förmlichen, affektierten Ausdrucksweise distanziert er sich dabei auch sprachlich von all den Menschen in seiner Umgebung.

Man könnte all das als gelungene Satire sehen und sich darüber amüsieren – wenn der Roman nicht ansonsten so ernst wäre und Dostojewskij nicht gelegentlich durchblicken ließ, dass auch er Frauen für schwach und weinerlich hält. Zwar sind zentrale Frauenfiguren in „Verbrechen und Strafe“ deutlich willensstärker und aufrichtiger als die Männer und halten einiges aus, dennoch werden sie von den männlichen Figuren stets müde belächelt. Dostojewskij selbst schreibt dem Frau-Sein im Allgemeinen viele negative Attribute zu und letztlich sind all seine weiblichen Figuren entweder Hure oder Heilige, Mutter oder zeterndes Weib. Junge Frauen sind in jedem Fall das Objekt männlicher Begierde und werden an ihren äußeren Vorzüge und ihrer „Eignung“ als Ehefrau bewertet. Männer sind dabei grundsätzlich ihre Retter und Heilsbringer. Sogar bei den selbstständigeren Frauen scheint das Leben erst dann Sinn und Erfüllung erhalten zu haben, als sie einen Mann an ihrer Seite wissen.

Apropos Heilige: Am Ende wartet Dostojewskij dann doch noch mit einer Art Läuterung Rodjas auf und versucht, in Rückblicken ein positiveres Bild seines Protagonisten zu zeichnen, das Rodja gar als Helden porträtiert: Wir erfahren beispielsweise, dass Raskolnikow für andere sein Leben riskierte. So ganz mag das nicht zu dem schnell zu erzürnenden Einzelgänger passen, den wir über die vorangegangenen 1000 Seiten kennenlernten, wenngleich er auch für Sonja und ihre Familie viel tat. Er scheint ein Mann der Extreme zu sein, in keinem Fall ist er aber ein Sympathieträger. Die plötzliche Läuterung und die Heldengeschichten lassen „Verbrechen und Strafe“ allerdings auch regelrecht kitschig enden. Der Epilog, der die Lesenden mit Rodjas Schicksal versöhnlich stimmen soll, wirkt dadurch fast schon zu erzwungen – ganz zu schweigen davon, dass er zu lang geraten ist. Ein radikaleres, vielleicht sogar offenes Ende, hätte in meinen Augen deutlich besser zur Geschichte gepasst.

Fazit:

Vermutlich denkt ihr nun, dass ich „Verbrechen und Strafe“ grässlich fand. Dem ist aber nicht so. Ich habe das Buch an sich gern gelesen, vielleicht gerade weil es so viele fragwürdige Punkte gibt. Ohne diese hätten wir vier in unserer Leserunde jedenfalls niemals so ausgiebig diskutieren können. Unter den Figuren gibt es viele, in denen wir Ansichten finden, die wir zutiefst verachten, als auch solche, die wir für erstrebenswert oder liebenswert ansehen. Als Leser*in kommt man nicht umhin, sich während der Lektüre wieder und wieder klar zu positionieren. Vor diesem Hintergrund verstehe ich, warum „Verbrechen und Strafe“ als wichtiger Klassiker betrachtet wird. Es ist jedoch kein Buch, dass ich jenen empfehlen würde, die einfach nur auf der Suche nach guter Lektüre sind. Es ist ein Buch, das – vor allem aus heutiger Sicht – aufregt, dessen zugrunde liegende Weltbilder immer wieder sprachlos vor Wut machen. Es ist zu wenig von dem, was ich und die meisten Menschen um mich herum leben und welche Werte wir vertreten. Somit wird es für mich nie zu einem Lieblingsbuch, auch keines, von dem ich behaupten würde, man sollte es kennen. Wer jedoch etwas Polarisierendes sucht, etwas mit vielen Reibungspunkten, der findet in „Verbrechen und Strafe“ die ideale Lektüre.


Fjodor M. Dostojewskij: „Verbrechen und Strafe“, aus dem Russischen übersetzt von Swetlana Geier, FISCHER TaschenBibliothek 2017, ISBN: 978-3-596-52156-2