Was für ein Buch! Auf den rund 500 Seiten, die seit dem ersten Zwischenbericht vergangen sind, hat ES ordentlich an den Nerven gezerrt – sowohl an meinen als auch an denen unserer sieben Protagonisten.
Nach fast 30 Jahren sind die Freunde wieder vereint, um ES erneut den Kampf anzusagen. Doch bevor es zu dieser Konfrontation kommen kann, müssen die alten Bande neu geknüpft werden und jeder muss sich an die Ereignisse im Sommer ’58 zurückerinnern. Episodenhaft, fast puzzleartig, erwacht dieses Albtraumjahr zu neuem Leben. Vergangenheit und Gegenwart verweben sich immer dichter miteinander; die Geschichte scheint sich zu wiederholen. King ist es dabei ganz hervorragend gelungen, die beiden Zeitebenen miteinander zu verknüpfen, indem er fließende Übergänge schafft: Ein Satz, der in einer Zeitebene beginnt, endet in der anderen – ein Stilmittel, das man in erster Linie aus Filmen kennt, das mich als Leserin viel stärker auf diese Zeitreise mitnimmt als herkömmliche Zeitsprünge und das zugleich die Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufzeigt.
„HAVE A GOOD DAY! TONIGHT YOU DIE!”
(S. 658)
In beiden Zeitebenen spitzt sich die Situation vehement zu: Hass, Wut und Gewalt in Derry nehmen immer stärkere Ausmaße an; ES wird fordernden und forscher. Suchte ES seine Opfer anfangs überwiegend dann auf, wenn sie allein waren, zeigt ES sich nun zunehmend auch an gut besuchten Orten und zeigt damit, dass man ihm nicht entkommen kann. ES ist allgegenwärtig. Und: ES ist Derry. Was wir schon früh im Buch ahnten, was sich als Bauchgefühl, als unbewusstes Wissen bei einigen Figuren zeigte, wird in den Teilen 3 und 4 zu einem eindeutigen Fakt. Derry ist „verseucht“ von ES, dem ultimativen Bösen, das sich Zorn, Vorurteile, Frust, Enttäuschung und Neid der Menschen in Derry zunutze macht, um sie zu seinen Spielbällen zu machen, sie zu Gewalt und Mord anzutreiben. Und das seit Jahrhunderten, nein, Jahrtausenden! Zusammen mit Mike und Richie haben wir erfahren, woher ES kommt und dass ES seit Ewigkeiten unter der Oberfläche des heutigen Derry lebt. Dort lauerte es, lange bevor es die Stadt gab, lange bevor überhaupt ein Mensch einen Fuß auf dieses Stück Erde setzte. Kann man etwas so Altes, Allmächtiges überhaupt besiegen? Je mehr ich über ES erfahre, desto mehr Respekt habe vor Bill, Ben, Beverly, Richie, Mike, Eddie und Stan, die sich schon als Kinder dieser Übermacht stellen und alles daransetzen, Derry von diesem Bösen zu befreien, wohlwissend, dass sie dieser Versuch das Leben kosten könnte. Und nun – fast 30 Jahre später sollen sie diesen Kampf noch einmal wagen? Ich ziehe meinen Hut vor dem Klub der Verlierer, denn allein die Gewissheit, dass ES ihnen hier jederzeit und überall auflauern kann (und es auch tut), jagt mir beim Lesen regelmäßig Schauer über den Rücken.
Und da ist ja nicht nur ES an sich, dass es zu fürchten gilt! Da sind auch Beverlys gewalttätiger Vater und die Gang um den kaltblütigen Henry Bowers, der für die Freunde damals wie heute eine tödliche Gefahr darstellt. Immer wieder gab es Momente, in denen ich nicht wusste, welche Konfrontation ich mehr fürchtete: jene mit ES oder jene mit Henry Bowers.
Als wäre all das nicht schon mehr als genug Stoff für adrenalingeladenes Lesen, beschert uns Stephen King zwischendrin noch so manchen anderen Horror und Ekel. Eine Szene, die sich mir dabei besonders ins Gedächtnis gebrannt hat, ist ein Moment im Wald, als Beverly Henry Bowers und Patrick Hockstetter beobachtet. Nicht nur ist Beverly hier in kurzer Zeit zwei Bedrohungen ausgesetzt, sondern wir als Leser erhalten auch Einblicke in die kranke Psyche Patricks – ein Einblick, bei dem sich mir mehrfach der Magen umdrehte.
Überhaupt beweist King auf den vergangenen Seiten wieder seine Stärke im Aufbau von Charakteren, Stimmungen und Kopfkino. Vor allem die ’50er erwachen vor meinem geistigen Auge zum Leben, filmgleich breiten sich die einzelnen Szenen vor mir aus. Die Barrens werden nicht nur für den Klub der Verlierer, sondern auch für mich zu einem Fixpunkt, einem sicheren Hafen, in dem ich kurz durchatmen kann und die Zeit still zu stehen scheint. Und so kann ich mich bei dem Indianerritual im Klubhaus der Freunde richtig fallen lassen, bereit für einen Trip, den ich nicht vergessen werde.
Zwischen all dem Horror ist „ES“ aber auch ein Entwicklungsroman. Die sieben Freunde erfahren erste Verliebtheit, erkennen, dass ihre Eltern keine unfehlbaren Leute sind, die immer im Recht sind, und sie beginnen, sich zu widersetzen, für sich und ihre Freunde einzustehen – egal, zu welchem Preis. Genau diese Kombination aus Charakterentwicklung und Horror ist es, die „ES“ zu einem so unvergleichlichen Klassiker macht und die erneut ein Beispiel für Stephen Kings besonderen Erzählstil ist. Genau das steckt mich nun aber in mein übliches King-Dilemma: Auf der einen Seite würde ich mich am liebsten von der Welt abschotten und ganz im Buch versinken, schnell herausfinden, was Ben, Bill und den anderen bevorsteht – doch auf der Seite widerstrebt es mir, Derry und den Klub der Verlierer schon bald verlassen zu müssen …
Stephen King: „IT“, Hodder and Stoughton 2011, ISBN: 978-1-4447-0786-1
Weitere Meinungen und Eindrücke:
- Leser-Austausch auf Leseblick
- Marcs Rückblick auf Teil 1 auf Lesen macht glücklich
- Marcs Rückblick auf Teil 2 auf Lesen macht glücklich
- Rückblick auf Teil 1 und Teil 2 auf Phantásienreisen
- Rezension auf Lesen macht glücklich
- Rezension auf Buchvogel
- Rezension auf Weltenwanderer
Du beschreibst sehr passend, warum ich dieses Buch so liebe! 😉
Liebe Sabine,
ich freu mich, das von dir zu lesen – gerade, weil „ES“ ja zu deinen Lieblingsbüchern zählt und du es schon mehrfach gelesen hast! Ich kann mittlerweile auch sehr gut nachvollziehen, warum „ES“ diesen Status bei dir hat. :) Darin vereint sich so ziemlich alles, was Stephen Kings Gesamtwerk und seinen Stil ausmacht und ich frage mich, warum ich mit der Lektüre so lange gewartet habe …
Vielleicht kannst du mir auch eine Frage zum vierten Teil beantworten: Eddie hat in den ’80ern Schmerzen im linken Arm, im Rückblick erfahren wir aber, dass sein rechter Arm gebrochen wurde. Ist das einfach nur ein inhaltlicher Fehler, den die Verlage über all die Jahre übersehen haben oder liegt da ein bestimmter Grund dahinter, den ich beim Lesen einfach übersehen habe?
Ich vermute, dass das ein Fehler sein wird. Wenn ich ehrlich bin, ist
Mir das vorher gar nicht aufgefallen. Ich habe das einfach mit dem Armbruch in Verbindung gebracht und mich nicht weiter darum gekümmert. 😳😂 Hut ab, dass dir das aufgefallen ist!
Ich kann auch online nirgendwo etwas dazu finden, was mich angesichts von King-Wiki und einer so großen, aufmerksamen Fan-Gemeinde wundert. Vielleicht ist das auch nur ein Fehler in meiner Ausgabe?!
Hallo 🙂
Ich hab inzwischen einige Stephen King Bücher gelesen, aber an ES habe ich mich bisher nicht rangetraut, obwohl es schon länger bei mir im Regal steht. Vielleicht ist es jetzt doch dann mal an der Zeit, es anzugehen 😉
Liebe Grüße,
Smarty
Hallo Smarty,
wenn du Kings Schreibstil magst, solltest du es mit „ES“ auf jeden Fall probieren. Für mich gehört es bereits jetzt zu meinen Lieblingsbüchern aus Kings Feder. Ich bin gespannt, wie es dir gefallen wird!
Ich selbst bin ursprünglich durch seine neueren Werke „zu ihm gekommen“ und hole erst seit letztem Jahr die älteren Titel nach – das ist wie ein „Neu-Entdecken“. :)
Viele Grüße
Kathrin
Dann bin ich gespannt, was du zu den restlichen Seiten und dem Buch im Gesamten sagen wirst. Sind da auf einer Wellenlänge ;-)
Ich stecke gerade mitten im großen Showdown und bin gespannt auf die letzten Seiten, die sicher noch das ein oder andere offenbaren werden. Danach werde ich erstmal deine Rezension am Stück lesen – bisher habe ich immer nur Teile davon gelesen, um ohne Eindrücke anderer an das heranzugehen, was ich noch nicht kenne. ;)
Nachdem ich den Film vor Kurzem gesehen habe, hatte ich auch extreme Lust den Roman doch noch zu lesen und deine Schilderungen klingen auch so, als ob der Roman was für mich wäre. Ich mochte es auch schon sehr in anderen Stoffen von Stephen King wie er die Kindheit und das Aufwachsen schildert. Bittersüß wegen der großartigen Erinnerungen mit Freunden, aber auch die Konfrontationen mit Mobbern und Eltern, den eigenen Ängsten etc. Hach, das erinnert an früher.
Aber erst diese Woche habe ich von einer scheinbar recht kontroversen Szene im Buch gelesen, die sich zwischen den Kindern abspielt. Ich weiß nicht, ob das durch die Medien aufgebauscht oder sogar falsch ausgelegt wurde, aber auch in meinen Ohren hat es beim Lesen etwas geklingelt. Kannst du dir vorstellen, was ich meine? Vielleicht hast du es schon gelesen?
Ich ahne, welche Szene du meinst (hab ES diese Woche beendet) und finde diese Szene auch sehr… problematisch. Ich finde das Buch an sich großartig, aber diese Stelle fand ich weder passend noch unbedenklich und für mich gibt es auch keinen Grund, dass so eine Szene in einem Buch gerechtfertigt wäre. Das hat bei mir nach Zuklappen des Buches auch einen bitteren Beigeschmack hinterlassen.
Auch wenn ich es in meiner Besprechung nicht weiter thematisiert habe, empfand ich diese Szene sehr unpassend zum Rest, irgendwie vollkommen entrückt. Da hat Mr.King keinen guten Tag gehabt, als er das geschrieben hat.
Hallo Marc,
es „beruhigt“ mich gerade, dass auch du diese Szene als unpassend empfunden hast. Neben der problematischen Darstellung störte mich nämlich auch, dass sie für mich irgendwie in die Geschichte „gezwungen“ schien – für mich passte die Szene nicht in die Gesamthandlung bzw. habe ich in ihr keine Relevanz und keinen Mehrwert für die Handlung gesehen.
Was mich aber auch überraschte: Bislang habe ich zu dieser Szene in keiner Rezension etwas gelesen (auf Goodreads wird es bestimmt angesprochen, aber in den Feuilleton- und Bloggerbesprechungen habe ich von dieser Stelle nie etwas gelesen). Ich vermute, dass das auch einfach aus Spoiler-Gründen nicht passierte, trotzdem finde ich es traurig, dass diese Szene so wenig diskutiert wurde/wird.
Die Intention, die King verfolgte ist mir klar und ist auch logisch, aber das Mittel ist nicht schön gewählt und bin froh, dass es nicht im Film verwendet wurde.
Apropos Film: Mittlerweile gesehen?
Das kann ich so nur unterschreiben. Natürlich steckt auch eine gewisse Symbolik hinter dieser Szene, aber ich denke, diese hätte man auch auf einem anderen Wege erzielen können. Es ist schade, dass – zumindest für mich – dadurch das Buch zum Ende so einen bitteren Beigeschmack bekommt.
Den Film habe ich mittlerweile gesehen. Insgesamt fand ich ihn gut, aber nicht so begeisternd, wie ich erwartet hatte. Manches ist m.E.n. im Film besser umgesetzt als im Buch, anderes aus dem Buch habe im Film sehr vermisst. Pennywise fand ich jedoch genial und im Gegensatz zum Buch war es mir im Kinosaal möglich, in Pennywise bzw. in ES mehr als nur das nimmersatte, abgrundtief Böse zu sehen. Wie war dein Eindruck von der Verfilmung? Kennst du die Verfilmung aus den 90ern? Bei der habe ich leider noch Nachholbedarf und ich bin gespannt, wie diese auf mich wirken wird.
Bevor ich total vergessen das hier losgetretene Thema nochmal aufzugreifen … wahrscheinlich soll die Szene ja irgendwie den Übergang vom Kind zum Erwachsenen markieren, aber die Metapher scheint seltsam gewählt und nachdem du mir bestätigst, dass es die Szene gibt, werde ich das Buch wahrscheinlich nicht lesen und bei den filmischen Eindrücken bleiben, auch wenn ich Stephen King Fan bleibe und weiter Bücher von ihm lesen möchte. Aber ich bin da jetzt mal ganz einfach gestrickt und sage … das passt mir nicht. Trotz Allem großartigen, was das Buch zu bieten hat. Vielleicht ist das die falsche Einstellung, vielleicht sollte ich es gerade lesen, um die Szene zu verstehen.
Warum ich aber noch nie bei anderen Bloggern was darüber gehört habe, finde ich auch sehr seltsam um nicht zu sagen stößt es mich vor den Kopf. Ich habe soviele Lobeshymnen gelesen und bin sehr erstaunt darüber. Allerdings kann ich mir auch denken warum das so ist. Unter den Buchbloggern, die sich sehr stark von Verlagen und Rezensionsexemplaren abhängig machen und die denken, dass sie deswegen keine freie Meinung äußern sollten/dürfen, werden gern Schwächen und schwierige Themen vermieden. Und ich denke, dass das so ein Fall ist.
Das soll die Szene durchaus, aber wie du schon als Nicht-Kennerin des Buches feststellst, ist die Umsetzung dieses Übergangs sehr eigenartig (um es noch nett zu formulieren). Ich kann daher gut verstehen, wenn dich das Wissen um die Szene von der Lektüre abschreckt. Vermutlich würde es mir an deiner Stelle ähnlich gehen. Ich finde, „ES“ ist die Lektüre dennoch mehr als wert, aber mir wäre es lieber, diese Szene wäre nie publiziert worden. Andererseits werfen genau solche Entscheidungen von Autoren und Verlagen natürlich wichtige Diskussionen auf, die eine Gesellschaft auch immer wieder benötigt, um Grenzen zu stecken und gesellschaftliche Normen auszuloten.